Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
kultiviert, so talentiert. Sie hat mir ein bisschen Geigespielen beigebracht. Ja, wir haben nie gezweifelt, Vater war sich so sicher. Immer wieder hieß es: »Wann heiraten sie denn? Haben sie schon einen Termin?« Wer hätte gedacht, dass es anders kommen würde. Wer hätte damit gerechnet, dass es so ausgehen würde?
Sie wussten nicht, dass er ebenfalls wartete. Sie wussten nicht, dass er ebenso ratlos war. Sie war immer geheimnisvoll, immer schwer zu fassen: ein dunkeläugiges, nervöses und scheues Reh. Die Ricke auf den Straßen der weißen Stadt. Das Unmögliche, das er zu erreichen suchte.
Achtes Kapitel
Ich kam zur Küchentür herein, und Saul wartete auf mich. Er lauerte mir auf wie ein Skorpion, im Flur und ohne sein Radio: schon an sich ein Alarmsignal.
»Wo warst du?«
»Nirgends.« Ich zuckte die Achseln. »Auf dem Platz.«
»Allein? Auf dem Platz?«
»Allein. Entschuldige. Kann ich mal vorbei?«
Er trat sofort zur Seite und folgte mir. »Ich habe euch zusammen gesehen«, sagte er. »Ihr seid gesehen worden.«
Ich zog meine Sandalen aus und rieb mir den Staub von den Füßen.
»Du bist mit dem Frummer gesehen worden. Dem Orientalen.«
»Ja.« Ich lächelte. »Interessanter Typ.«
Sauls Gesicht verzog sich vor Bockigkeit und Abscheu. »Wofür willst du denn mit diesem Ganeff reden? Weißt du, warum er hier ist? Häh? Du weißt doch, warum er hier ist?«
»Ich glaube, ich weiß, warum er hier ist. Aber ich verstehe nicht, warum du ihn Ganeff nennst. Bisher hat er doch gar nichts gestohlen, oder?«
» Bisher !, sagt sie. Er hat bisher noch nichts gestohlen!«
»Er ist total durchgeknallt. Aber ich mag ihn irgendwie.«
»Sie findet ihn auch noch lustig!« Er stand dicht vor mir, Nase an Nase. Ich bemerkte nicht zum ersten Mal seinen
ungewaschenen Geruch. »Du kennst diese Leute überhaupt nicht. Du meinst, du kennst diese Leute? Ich kenne diese Leute. Cobby hält sich für besonders schlau, ruft beim Radio an und jetzt auch noch beim Fernsehen; und dann gehst du auch noch hin und schnüffelst rum. Warum erzählen wir es nicht einfach gleich der ganzen Welt? Hier, kommt, nehmt es, nehmt alles! Umsonst, gratis. Freibier für alle!«
»Ja. Warum nicht? Wovor hast du Angst, Saul?«
»Wovor ich Angst habe? Sie fragt, wovor ich Angst habe.« Er schien darüber nachzudenken und keine unmittelbare Antwort zu wissen. Die Angstfrage schien insgesamt zu groß zu sein. »Du kommst hierher«, sagte er. »Du kommst hierher. Genau wie dein Vater. Nach zwanzig Jahren.« Er atmete röchelnd. »Was verstehst du denn schon von Angst?«
Neuntes Kapitel
Jerusalem, DHS, 8. Adar
Geliebter Sohn!
Wir hoffen, ihr seid gut von Jerusalem nach Hause gelangt. Saul ist ohne Zwischenfälle in Tiberias angekommen.
Die Freude, euch bei uns gehabt zu haben, wurde nur ein klein wenig getrübt durch die Nachricht, dass wir euch erst zu Pessach wiedersehen. Da es sich aber nicht ändern lässt, bin ich doppelt dankbar für das Foto von Hannah, das ich mir sentimentalerweise in die Brieftasche gesteckt habe, hauptsächlich, um es selbst anschauen zu können, aber auch, um es bei Gelegenheit vorzuzeigen, falls jemand sich für meine zukünftige Schwiegertochter interessiert. Es ist wirklich ein sehr hübsches Bild - was allerdings nicht überrascht,
denn ihre Qualitäten kommen in einer gestellten Porträtaufnahme besser zur Geltung als auf einem Schnappschuss.
Wir haben es sehr genossen, dass du und Hannah an diesem Tag zu uns gekommen seid, der für mich und bestimmt auch für alle anderen voller Wärme, gemeinsamer Freude und Friedlichkeit war. Der heilige Glanz des Shabbats wurde durch das Strahlen liebender Herzen verstärkt, und ich bin überzeugt, dass wir die Braut Shabbat gut unterhalten haben.
In Sauls Namen kann ich noch hinzufügen (er würde mir mit Sicherheit nicht widersprechen), dass Hannahs Vertonung seines Gedichts wunderschön war, und wenn er es in dem Moment nicht recht gewürdigt hat, dann nur, weil er es aufgrund seiner Verlegenheit, die dir ja wohlbekannt ist, nicht deutlicher zeigen konnte.
Bitte sag Hannah noch einmal danke für den Apfelkuchen.
Sei uns gesegnet und gegrüßt von deiner Mutter und deinem Vater,
Joseph
Tel Aviv, 25. Februar 1938
Ihr Lieben, ihr habt gesagt, ich soll euch schreiben, sobald ich Arbeit habe, aber die habe ich immer noch nicht, also habe ich auch nicht geschrieben - der Fisch ist mir mal wieder aus den Händen geglitten. Was soll ich euch bloß
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