Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
war - er hörte ihn täglich auf den Straßen der Stadt, er hörte ihn von all seinen Schülern - und der doch speziell ihrer war: weicher und melodischer, seltsam verzerrt und eigentümlich. Er ließ sie Sätze wiederholen, Absätze aus Büchern und Zeitungen vorlesen. Wenn sie stolperte, ließ er es sie noch einmal lesen.
Er versuchte vergeblich, ihre Aussprache zu korrigieren.
Einmal erschien sie nicht zum Unterricht. Er machte sich eine halbe Stunde lang Sorgen, ging dann zum Gemischtwarenladen und erfuhr, dass sie krank war. Da ging er zum Markt und kehrte mit Melonen, Trauben und Blumen zurück. Herr Entenmann nahm sie mit einem ironischen Blick an.
Sie missverstanden einander. Sie kam nicht zur verabredeten Zeit. Er suchte sie auf der Promenade, im Theater, in der Dizengoff-Straße, überall, wo er sie in der kleinen Stadt hätte finden können. Als er zurückkehrte, wartete sie im Treppenhaus seines eigenen Hauses.
Sie lernten, auf Hebräisch und Deutsch, was peinlich heißt.
Den ganzen Sommer über spielten sie das Spiel von Freundschaft. Als sie sich ihm öffnete, kam es plötzlich und
vollständig und umfassend, in dem beengten, heißen Zimmer mit den verknüllten Laken und den hohen Fensterläden, die wegen der Sonne geschlossen waren, und der arme, dicke Herr Wasserstein schwitzte draußen auf den Eingangsstufen, und als sie hinaustraten, war er gegangen, er hatte seine Stunde selbst abgesagt (in der richtigen Konjugation); und so gingen sie und tranken Eistee im Café »Schnee des Libanon«.
Als er sie zum ersten Mal mit nach Jerusalem nahm, trug sie ein blaues Tupfenkleid und ein besticktes, braunes Kopftuch, und ihre Hände waren lang und braun über den Shabbat-Kerzen, als sie den Segen sprach. Sie hatte eine große Warze auf dem Zeigefinger. Miriam erinnert sich gut daran, weil die Warze in dem Moment, als sie sie bemerkte, alles zu verkörpern schien, was sie fühlte, vierzehn Jahre alt und voller Eifersucht auf die Frau, die ihr den Lieblingsbruder stehlen würde. Sie saß wie betäubt in der Ecke des Wohnzimmers, als sie lachten und redeten, als die Familie immer bezauberter und immer entzückter war. Sie schaute den Zeigefinger an und dachte: Hexe! Später ging Miriam auf die Veranda, wo das Licht von den Shabbat-Kerzen in langen Rauten durch die Lamellen der Terrassentüren fiel. Eine tiefe Stille hatte sich über den Platz gesenkt. Sie schaute zurück auf die fröhliche Gesellschaft und dachte, jetzt sei unwiderruflich alles vorbei.
»Das war reiner Egoismus«, sagt sie und lächelt mich über ihre Tasse mit heißem Wasser hinweg an. »Ich war in ihn verliebt, so einfach ist das. Ich weiß, so was darf man nicht zugeben, aber …« Sie zuckt mit den Schultern. Einen Augenblick später fügt sie hinzu: »Das war natürlich alles ganz unschuldig.«
Irgendwann kam er zu ihr heraus auf die schummrige Veranda, was zweifellos genau das war, was sie gewollt hatte. Er fragte, warum sie nicht bei den anderen sei. Sie schmollte
und wollte nichts sagen. Als er ihre Wange berühren wollte, wandte sie sich ab. Er zögerte einen Moment im Dämmerlicht. Einen Augenblick später ging er wieder hinein.
»Da hatte er seine Entscheidung getroffen!«, erzählt Miriam und lacht.
»Keine schwierige Entscheidung, ehrlich gesagt, aber...« Sie wirkt ganz versunken. »Ein Mann kann sich natürlich nie wirklich gegen seine Schwester entscheiden.« Später beobachtete Miriam von der Veranda aus, wie die beiden um den Platz spazierten: Sie sah, wie sie im Schutz der Synagoge Halt machten und eine Zigarette rauchten. Wäre sie drei Jahre jünger gewesen, hätte sie möglicherweise gepetzt. Im Licht der Synagogenlaterne sah sie, wie sie sich küssten.
Als der Shabbat zu Ende ging, spielte Hannah für sie alle. Sie stand auf den schwarz-weißen Fliesen in der Mitte des Wohnzimmers, und alle anderen saßen erwartungsvoll auf Stühlen und Sofas, unter den Gemälden von Pariser Straßenszenen. Was spielte sie? Miriam kann sich nicht erinnern. Niemand von ihnen verstand viel von Musik. Aber unter der Schale ihrer Eifersucht spürte sie in diesem Moment etwas weniger Überwindbares: die erste Ahnung eines verborgenen Lebens.
Oh, wir haben sie alle geliebt, sagt sie, wir haben sie alle gemocht! Sogar ich habe sie am Ende gemocht. Ich weiß noch, einmal habe ich sie gebeten, mir einen dieser Hüte aus Tel Aviv mitzubringen, und sie hatte ihn gleich beim nächsten Mal dabei, sie hatte es nicht vergessen! Sie war so
Weitere Kostenlose Bücher