Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
ihr Geheimnis noch nicht kannte, dass es immer noch etwas gab, was sie ihm nicht erzählte.
Er fragte: »Kommst du mit nach England? Heiratest du mich?«
Sie antwortete: »Ich gehe nicht nach England. Ich kann dich nicht heiraten.«
»Warum nicht?«
»Wenn ich es doch sage. Ich kann einfach nicht.«
Sie versprach, ihm zu schreiben.
Den ganzen Winter über wurde sein Haar im englischen Regen immer dunkler, vom goldenen Glorienschein des Sommers zu einem trüben Mittelbraun. Er lebte wie ein Mönch und schrieb Briefe, und die Briefe kamen ungeöffnet zurück. Er wartete auf ihre Briefe, und nichts kam. Sein Haar wurde dunkel und seine Haut blass wie die Haut eines Mannes, der unter der Erde lebt, wie das Gesicht eines alten Heiligen an einer Kirchenwand. Und er ging durch das Labyrinth grauer Straßen, im Wind, im Regen, er schrieb und wartete, und es kamen keine Briefe. Die Familie sagte: Wir haben nichts von Hannah gehört und gesehen. Auch in der Musikschule wusste man nichts Neues.
Und dann saß er eines Tages in der Bibliothek und las in der Zeitung, dass der Virtuose Otto Rosenberg, der berühmte Geiger, aus Deutschland geflohen und auf dem Weg zu seiner Verlobten in Tel Aviv sei.
Da schrieb er keine Briefe mehr, und es kamen keine Briefe mehr zurück, und anderthalb Jahre später heiratete er meine Mutter.
Zehntes Kapitel
»Also«, sagt Miriam, »möchtest du gescheiten Kuchen?« Sie holt eine Schachtel mit aufwändigen Törtchen aus dem Kühlschrank.
Ich esse, und sie schaut zu, beide Hände um ihre Tasse mit heißem Wasser geschlungen: Sie hat Probleme mit der Verdauung, erklärt sie, sie kann nicht viel essen. Außerdem leidet sie unter Kopfschmerzen und Kreislaufproblemen, aber sie arbeitet hart, hält die Wohnung in Ordnung, kümmert sich um ihre Pflanzen, kämpft gegen das Alter an, so gut sie kann. Das ist kein Honiglecken! Wir Shephers leben lange, und am Leben kann man sich selbst im größten Unglück noch festhalten, auch wenn die Gesundheit darniederliegt.
Die Küche ist makellos, die kleinen Pfannen und Schüsseln akkurat gestapelt, Essensreste werden ordentlich in einer Kristallschale aufbewahrt. Alles ist sauber, ausgeblichen und so oft abgeschrubbt, dass es stumpf glänzt; alles ist alt und ehrwürdig, abgenutzt und noch bestens zu gebrauchen. In diesem Augenblick fühle ich mich in der Wirklichkeit geborgen.
»Dann war sie also schon verlobt«, sage ich, »als sie nach Palästina kam.«
»Scheint so. Sie hat nie etwas angedeutet.«
»Vielleicht dachte sie«, sage ich vorsichtig, »ihr Verlobter schafft es nicht zu fliehen.«
»Das nehme ich auch an.«
»Aber trotzdem«, ich untersuche mein Törtchen, »wäre es vielleicht besser gewesen, ehrlich zu sein.«
»Dein Großvater«, sagt Miriam, »war sehr wütend.«
Ich wende mich zum offenen Fenster und sehe die Stadt immer noch in ihrem dunklen Nest funkeln: Unter uns liegt
eine Landkarte aus Brillanten. Der Himmel spiegelt die Beleuchtung wider. Es ist zu hell, als dass man seine Sternenkarte funkeln sehen könnte.
»Also haben sie nicht geheiratet.«
»Sie haben nicht geheiratet. Natürlich nicht«, Miriam lächelt, »sonst wärst du jetzt nicht hier.«
»Natürlich …« Ich starre weiter aus dem Fenster; versuche, nur einen Augenblick noch, mir den Schauder dieser eigenartigen neuen Enthüllung zu bewahren, zusammen mit dem Unfassbaren, der Vorstellung: der Ahnung meiner möglichen Nichtexistenz.
»Aber sie haben sich geliebt.«
»Daran haben wir nie gezweifelt«, sagt Miriam, »dass sie sich geliebt haben.« Eine Pause. Wir denken beide über etwas nach. Die Luft zwischen uns lädt sich auf wie eine Gewitterwolke.
»Aber erzähl doch mal«, sagt Miriam munter, »etwas über dich. Wie lebst du, wer ist wichtig in deinem Leben?«
Ich wende mich wieder dem Kuchen zu, nehme meine Gabel auf und esse weiter.
»Oh, niemand Bestimmtes.«
»Da war aber doch mal jemand, oder? Daniel - oder wie hieß er, von dem du mir mal geschrieben hast?«
»Das ist lange her. Es ist vorbei.«
»Und jetzt hast du niemanden?«
»Nein.« Ich schaue sie an. »Und es gab auch nie jemanden außer Daniel.«
Wir sind mit einer solchen Geschwindigkeit in die Gegenwart gepurzelt, dass Miriam kurz zerknirscht wirkt: Weil sie ein schmerzhaftes Thema beenden wollte, ist sie, vielleicht unvermeidlich, in ein anderes getappt.
Sie legt ihre Hand auf meine. »Möchtest du darüber reden?«
Ich sehe in ihre traurigen, alten, freundlichen,
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