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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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gefragt, wie alt er ist.
    »Nichts«, lüge ich. Ich rutsche verlegen auf meinem Stuhl herum. Die Reste meines Cappuccinos sind kalt geworden. Es kommt mir vor, als könne Gideon in mich hineinschauen und jeden flüchtigen Gedanken in meinem verräterischen Gesicht lesen. Er trägt, stelle ich fest, keinen Ring an der Hand, auf der seine Wange ruht.
    Vielleicht trägt man in seiner Weltgegend keine Ringe.
    »Du siehst aus, als wärst du meilenweit weg«, stellt er mit wissendem Gesichtsausdruck fest.

    Er weiß nicht, dass ich es weiß. Ich habe es ihm nicht erzählt. Vielleicht hat er Angst, sein Geheimnis zu lüften. Aber mir erscheint er jetzt noch geheimnisvoller, noch weniger durchschaubar, da ich seine Herkunft kenne.
    »Du hast noch nicht gesagt«, fügt er hinzu, »ob du mir glaubst.«
    Jetzt bin ich dran mit Lächeln: als ob es wirklich ums Glauben ginge. Als ob ich in der Lage wäre, überhaupt etwas zu glauben. Da ist noch etwas Wichtigeres als das, ein Gefühl, das ich kaum in Worte fassen kann. Etwas Mächtiges, etwas, das mit dem Instinkt verwandt ist. Lächelnd und beherrscht sage ich: »Ich weiß jedenfalls, dass ich dich mag.«
    »Ich mag dich auch«, sagt Gideon. Und legt die Hand auf den Tisch. Er berührt mich natürlich nicht. Aber seine unberingte Hand liegt da wie eine Art Annäherung.
    Ich ziehe mich zurück. Ich schaue beiseite, aus dem grauen Fenster. »Du hast mir noch gar nichts über deine Familie erzählt«, sage ich.
    Er zuckt die Achseln. »Da gibt es nichts zu erzählen. Ich habe drei Brüder und vier Schwestern. Alle verheiratet. Was möchtest du denn wissen?«
    »Du bist nicht verheiratet?«
    Gideon grinst. »Ich bin das schwarze Schaf.« Sein Grinsen wird breiter. »Ich bringe meine Mutter zur Verzweiflung.« Dann fragt er: »Und du?«
    »Wenn meine Mutter noch leben würde«, sage ich vorsichtig, »würde sie sich bestimmt wünschen, ich wäre verheiratet.«
    »Und was wünschst du dir?«
    »Ich wünsche mir, glücklich zu sein mit dem, was ich habe.«
    »Und was hast du?«
    »Mich. Meine Arbeit. Das sollte genügen.«

    »Sollte es, oder?«
    Wieder rutsche ich herum, unruhig unter seinem allwissenden Blick. Ich finde keinen Schutz vor meinen aufkeimenden Gefühlen. »Es braucht dir nicht leidzutun«, murmele ich. Meine Gefühle steigen mir in der Kehle hoch und schneiden mir die Stimme ab.
    »Es tut mir nicht leid«, sagt Gideon. »Ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe.«
    Beinahe stehe ich auf. Von irgendwo in der Nähe, irgendwo hinter meinem Rücken, flüstert mir jemand immer wieder ins Ohr: Er will nur den Kodex. Er will dich nur manipulieren. »Du weißt aber«, sage ich schroff, »dass ich mich, wenn ich dir den Kodex überlasse, von dem Einzigen verabschiede, das mir wirklich wichtig ist. Dem Einzigen, was meine jämmerliche Karriere retten könnte.«
    Wir stellen uns einander. Wir schauen einander an. Gideons Gesicht ist ernster, trauriger, als ich es je gesehen habe. Meins steht wahrscheinlich in Flammen. »Ja«, antwortet er ernst. »Das weiß ich. Glaub nicht, ich wüsste nicht, worum ich dich da bitte.«
    »Wenn es eine abweichende Version ist, dann würde ich nichts lieber tun als drei Jahre lang darüber sitzen und sie analysieren.«
    »Vollkommen klar. Aber glaubst du, deine Verwandten würden dich lassen?«
    »Wenn du ihn mit nach wohin auch immer nimmst, werde ich nicht einmal die Möglichkeit haben.«
    Gideon schweigt. Er spielt mit Krümeln auf dem Tisch. Seine Finger sind lang, elegant; Künstlerhände. »Wer weiß«, murmelt er fast unhörbar.
    »Werde ich nicht«, sage ich schroff wie unter einer kalten Welle, »und du bittest mich um dieses Opfer.«
    »Ich bitte dich nur zu tun, was richtig ist.«

    Wir sind beide still. Es gibt nichts mehr zu sagen. Die Geschäftigkeit und der Lärm des Cafés nehmen zu und scheinen in unsere Intimsphäre einzudringen; das Poltern und Drängeln der Leute scheint uns hinauswerfen zu wollen. Ich fühle mich ganz verlassen bei dem Gedanken, in diese Trostlosigkeit zurückzukehren. Ich möchte hierbleiben, mit Gideon, notfalls auch im Streit. Solange wir streiten, kann ich wenigstens bei ihm sein.
    Er sieht plötzlich auf, und sein Gesicht strahlt, er lacht: »Es ist ein Geschenk, oder?«, sagt er. »Dieses Geheimnis, das wir gemeinsam haben. Damit haben wir bestimmt beide nicht gerechnet, als wir herkamen.«

Neuntes Kapitel
     
    Die Werkstatt war kalt, windschief, nicht viel mehr als ein provisorischer Unterstand,

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