Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
und bitten ihn, einen Blick auf den Kodex werfen zu dürfen. Männer in schwarzen Mänteln, Männer mit glühenden Augen und dunkel glänzenden Schläfenlocken. Er muss sie wegschicken: Er muss ihnen sagen, dass er den Kodex nicht hat.
Es war nie seine Absicht, Zwietracht zu säen. Er wollte der Familie nur Ehre machen. Er glaubt immer noch, Sara Malkah könne Vernunft annehmen. Seine Unschuld ist rührend für einen Mann, der schon so lange lebt.
Er steht am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, blättert durch Papierstapel und murmelt vor sich hin. Er sucht etwas. Ich glaube, er hat vergessen, was. Seine Regale sind voller Dokumente: Aktenordner und Ringbücher, Mappen und Schnellhefter. Er heftet alles ab, wirft nichts weg.
»Ach, hier ist es ja. Nein, doch nicht.«
Wegen des warmen, trockenen Klimas, in dem sie aufbewahrt werden, verfallen diese Dokumente. Das Papier wird gelb und brüchig, bekommt eine seltsame Maserung, als hätte es ein Feuer überstanden. Es gibt hier Briefe, die mit der Zeit ockerfarben geworden sind, die von einer dicken Staubschicht bedeckt sind, aus denen niemand mehr schlau würde,
außer vielleicht einem längst verstorbenen Anwalt oder Steuerberater. Dinge, die er »nur für den Fall« und »weil man ja nie wissen kann« aufbewahrt hat. Er möchte, wenn er stirbt, einen vollständigen Nachlass hinterlassen. Alles, was er hinterlassen wird, ist dieser chaotische Wörterhaufen zum Verfeuern.
Er zieht ein altes Foto hervor: meine Mutter und mein Vater am Pier von Haifa, meine Mutter in einem weißen Kleid, mein Vater im Homburg. »Irgendwo da drin«, murmelt er, »ist ein Brief von diesem Anwalt.«
Cobby hat seine eigene Theorie, wo mein Urgroßvater die zwei Jahre seiner Abwesenheit verbracht hat. Sie ist allerdings nicht leichter zu beweisen als meine. Man kann sich gut vorstellen, wie er in einer schummrigen Genisa kauert und die steifen Seiten uralter Bücher umblättert. Oder wie er über eine abgeschiedene Gemeinde stolpert und eine Weile dort bleibt, um ihre Torahrollen zu korrigieren. Er könnte wieder krank geworden sein, seine Suche aufgegeben und das Leben eines anonymen Kleinbauern geführt haben. Oder vielleicht war er auch in unbekanntes Gebiet in den Bergen des Kaukasus vorgedrungen und hatte Abkömmlinge der zehn verlorenen Stämme gefunden.
Cobby, der Rationalist, neigt nicht zu dieser letzten Theorie. Er glaubt nicht an die Legenden vom Sambatyon. Es gibt keine Geheimnisse auf der Welt, die sich nicht lösen lassen, keine verlorenen Völker in den Bergen.
Er kann nicht mit Sicherheit erklären, woher mein Urgroßvater den Kodex hat, der der Familie Shepher jetzt solchen Kummer bereitet. Vielleicht hat er ihn überhaupt nicht von seiner Reise mitgebracht. Er könnte ihn auch von einem namenlosen Fremden bekommen haben. Er könnte ihn in der Genisa gefunden haben, in der er die fraglichen Jahre verbrachte.
Ich auf der anderen Seite bin gar nicht so rational. Oder wenn, dann nur in Bezug auf die Gegenwart. Die Gegenwart lässt sich erklären, aber die Vergangenheit ist für mich voller Wunder. Und wenn nicht Wunder, dann zumindest Geheimnisse. Und wenn nicht Geheimnisse, dann Möglichkeiten: Momente der Offenbarung, wahr werdende Ahnungen.
Und so bin ich bereit, mir vorzustellen, dass mein Urgroßvater eine weite Reise unternommen hat: dass seine Reise ihn in das Land eines jüdischen Stammes brachte. Dass er bei ihm lebte, seine heiligen Schriften studierte und dass er, als er ihn verließ, dieses kostbare Souvenir herausgeschmuggelt hat.
Er brachte den Kodex in seinem Bündel mit nach Jerusalem. Und als er in Jerusalem ankam, wurde er seltsam krank. Manche führten es auf chronische Tuberkulose zurück, andere auf schwere Hypochondrie. Manche vermuteten eine Gehirnerweichung, wieder andere einen unerklärlichen Abfall vom Glauben.
Oder, habe ich mir überlegt, er ist erstarrt angesichts der Kluft zwischen Sprache und Offenbarung, angesichts der Unvollkommenheit der Sprache im Gegensatz zur Vollkommenheit des Wortes. Vielleicht lähmten ihn seine Folgerungen. Denn wenn Gott verschiedene Versionen zuließ, wenn Gott unfähig war, Fehler zu vermeiden, was sagte das über die göttliche Macht - was wurde dann aus der Vorstellung von einer göttlichen Wahrheit?
Cobby sagt: »Ich weiß, dass er hier irgendwo ist.« Er wühlt sich durch seine Papierstapel, murmelt vor sich hin und schüttelt den Kopf.
Ich betrachte das Foto, die Papiere, die mit jedem Moment
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