Das Vermächtnis des Templers
es, Bücher abzuschreiben und dabei keine Fehler zu machen oder etwas zu vergessen.»
Jordanus nahm einen der dickleibigen Bände vom Tisch und schlug ihn auf.
«Warum muss man die Bücher abschreiben?», wollte der Junge wissen. «Ist das nicht langweilig? Und wozu braucht man zwei Bücher, in denen ein und dasselbe geschrieben steht?»
«Nun, andere Klöster können an dem Buch interessiert sein, wenn sie es selbst noch nicht in ihrer Bibliothek haben. Auch kann es geschehen, dass ein Kloster in Brand gerät. Stell dir vor, es gäbe dann keine Kopien. Die verbrannten Bücher wären für immer dahin.»
Der Junge nickte.
«Dann hat der Schreiber wirklich eine wichtige Aufgabe.» «Ja, aber keine einfache. Schau einmal!»
Jordanus blätterte zur letzten Seite des aufgeschlagenen Bandes. Das Bild eines Schreibers war dort zu sehen und viele Schriftzeichen.
«Das Bild zeigt den Mönch, der diese Abschrift angefertigt hat. Auf der letzten Seite fügt er dem ursprünglichen Buch etwas hinzu. Das Bild zeigt wohl ihn selbst. Und dann hat er etwas in lateinischer Sprache geschrieben: ‹Die Schreibkunst ist mühevoller als jedes andere Handwerk. Behandelt diese Blätter mit Vorsicht. Ihr wisst gar nicht, was es heißt, ein Buch abzuschreiben. Das ist harte, drückende Fronarbeit›.»
«Das Schreiben hat diesem Mönch wohl keine Freude gemacht», sagte Johannes.
«Es ist wie mit allen Dingen. Manches tun wir gern, manches nicht. Ich glaube, der Herr würde es gern sehen, wenn wir das, was wir tun, gut tun, was es auch sei. Und im Kloster gibt es viele Dinge, die getan werden müssen. Keine Arbeit ist unwichtig. Schau, dieses Buch!»
Jordanus nahm ein anderes Buch vom Nachbartisch.
«Dieses Buch stammt von einem Mönch, den ich selbst noch kennenlernen durfte. Er trug deinen Namen. Johannes von Straßburg. Nach seinem Noviziat hat er fünfzig Jahre bis zu seinem Tod im Kloster Wettingen gelebt und dort dreiundvierzig Bücher abgeschrieben. Er hat bis zu seinem Tod gern geschrieben und ebenso gern gelesen.»
«Und was stand in den Büchern, die er abgeschrieben hat?»
«Das waren sehr unterschiedliche Dinge. Bücher, die man für den Gottesdienst braucht. Evangeliare, Predigtsammlungen, Traktate der Kirchenväter, die Carta Caritatis des Zisterzienserordens, ein Psalterium für das Krankenhaus, ein Mirakelbuch, die Werke des heiligen Bernhard von Clairvaux. Johannes von Straßburg war sehr belesen. Du konntest ihn alles fragen. Meist wusste er eine Antwort.»
«Meint Ihr, er wusste auch Dinge, die er nie erlebt hatte?»
«Sicherlich. Das ist das große Geheimnis der Bücher. Du erfährst Dinge, ohne sie selbst erlebt zu haben. So kannst du durch die ganze Welt reisen. Du kannst in die Vergangenheit reisen. Und du kannst zu dir selbst reisen.»
«Zu mir selbst?»
«Das mag seltsam klingen. Manchmal, wenn du in Büchern liest, hältst du inne, weil dich das Gelesene besonders berührt. Da wird etwas erzählt, das du in ähnlicher Weise auch schon einmal erlebt hast. Und dann erfährst du, dass es nicht nur dir allein so geht, sondern dass andere ganz Ähnliches erlebt haben. Und du kannst lesen, wie sie damit umgegangen sind. Deshalb ist es sehr interessant, Lebensgeschichten zu lesen. Und natürlich die Heilige Schrift, denn sie ist voll von Lebensgeschichten.»
Der Junge blickte auf das Buch vor ihm, die Lebensgeschichte des heiligen Bernhard, abgeschrieben von Johannes von Straßburg.
«Hat Johannes auch etwas auf die letzte Seite geschrieben?»
«Sicherlich», antwortete Jordanus und blätterte das Buch bis zum Ende durch. Zum Vorschein kam eine Seite ohne Bild, jedoch mit besonders kunstvollen Schriftzeichen. Er begann zu lesen:
«So oft ihr in diesem Buch lest, betet für den Wettinger Mönch Johannes von Straßburg, der es schrieb im Jahre der Menschwerdung unseres Herrn 1281 unter Arnold von Sittard, Abt dieses Klosters. Saget alle und jeder einzelne im innersten Herzen: Mögen diejenigen, durch die wir dieses Buch bekommen haben und durch die Gnade Gottes auch die noch folgenden Bücher erhalten werden, glücklich leben mit Maria, der Christusträgerin, und mit ihr die ewigen Güter Christi genießen. Amen, Amen!»
Vorsichtig klappte Jordanus das Buch zu.
In den folgenden Wochen durfte der Junge erste Schreibversuche machen. Die Arbeit mit Gänsefeder und Pergament fiel ihm nicht leicht. Zumeist endete das in einem hoffnungslosen Gekleckse, und Jordanus wurde mehr als einmal ungehalten und versuchte dem Jungen
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