Das Vermächtnis des Templers
Gemeinsam betraten sie den Kreuzgang und erreichten zunächst das Brunnenhaus, in dem Johannes durch die aufstrebenden Spitzbögen hindurch ein muschelförmiges Becken erblickte, in das aus der Wand Wasser sprudelte. Sie gingen vorbei am Refectorium, dem Speisesaal der Herrenmönche, und gelangten zu einem Raum, den Johannes bislang nicht wahrgenommen hatte. Der Mönch ließ ihn dort allein, ohne ihm Genaueres mitzuteilen. Er sah sich um und bemerkte vier Tische, die in gleichem Abstand zueinander standen und zum Fenster hin ausgerichtet waren. Auf diesen Tischen befanden sich große, in Leder gebundene Bücher. Eines davon war aufgeschlagen. Johannes trat näher und erblickte auf den beiden geöffneten Seiten kunstvoll gestaltete schwarze Zeichen, aber auch die farbige Abbildung eines Mönchs, der mit einem schmalen Gegenstand in der Hand auf ein geöffnetes Buch zeigte.
In diesem Moment ging die Tür auf, und einer der Herrenmönche trat herein. Er bemerkte, dass der Junge gebannt auf das Buch schaute.
«Du bist Johannes?», fragte er.
Der Junge nickte.
Der Mönch trat ebenfalls an den Tisch und blickte auf die
kunstvoll gestalteten Seiten des Buches.
«Mein Name ist Jordanus.»
Der Junge blickte auf und schaute ihn an, um sich gleich darauf erneut in die Buchseiten zu vertiefen.
«Weißt du, was das ist?», fragte der Mönch.
«Ich sehe ein Bild. Und Zeichen. Aber ich verstehe ihre Bedeutung nicht.»
«Es sind Schriftzeichen», sagte der Mönch. «Wer diese Zeichen kennt, kann verstehen, was in dem Buch steht.»
«Was steht denn in einem Buch?»
«Ganz unterschiedliche Dinge. Man kann aufschreiben, wie viel Getreide die Bauern dem Kloster abgegeben haben. Oder man schreibt die Geschichte eines Lebens.»
«Eines Lebens?»
«Ja. Dieses Buch zum Beispiel erzählt die Lebensgeschichte des heiligen Bernhard. Von seiner Geburt bis zu seinem Tod. Bücher können dir etwas über Menschen erzählen, selbst wenn sie vor vielen hundert Jahren gelebt haben.»
«Und dieses Bild?», Johannes zeigte auf die linke Buchseite. «Zeigt das den heiligen Bernhard?»
«Nun, was meinst du?»
«Ich kenne den heiligen Bernhard nicht. Auf dem Bild sehe ich einen Mann vor einem Buch, das auf einem Tisch liegt. Alles ist so wie hier, in diesem Raum.»
«Richtig. Dieser Mann schreibt Zeichen auf eine Buchseite.»
«Also ist es nicht Bernhard.»
«Wie kommst du darauf?»
«Er kann es nicht sein. Wenn dies seine Lebensgeschichte ist und er schon lange nicht mehr lebt, dann muss wohl ein anderer Mönch das Buch geschrieben haben.»
Jordanus blickte den Jungen verblüfft an.
«Das ist nicht immer eine Sache der Logik.»
«Was meint Ihr?», fragte der Junge.
«Ach, nichts.» Der Mönch bemerkte, dass der Blick des Jungen nicht von dem Buch abließ.
«Würde es dich interessieren, diese Zeichen kennenzulernen?»
Der Junge sah zu Jordanus auf und erblickte das Gesicht eines Mannes, der etwas blass und kränklich wirkte, dessen Haar längst ergraut war und der den Jungen mit gütigen, wohlwollenden Augen betrachtete. Und so zögerte Johannes nicht lange.
«Wenn ich die Zeichen lerne, kann ich dann die Geschichte Bernhards erfahren?»
«Das kannst du. Du kannst diese und auch andere Geschichten lesen. Und eigene Geschichten aufschreiben. Und du kannst die Geschichte unseres Herrn Jesus Christus lesen.»
Johannes überlegte nicht lange.
«Dann möchte ich das lernen.»
«Aber es dauert viele Jahre. Es ist schwer, all das zu lernen», sagte Jordanus.
Der Junge antwortete nicht, sondern blickte weiter gebannt auf die schwarzen Zeichen.
«Du wirst morgen beginnen. Und dann jeden Tag zwischen der Terz und der Sext hier sein. Nur am Sonntag werden wir uns nicht sehen.»
Johannes nickte.
An diesem Vormittag zeigte Jordanus dem Jungen verschiedene Bücher. Gemeinsam betrachteten sie die Abbildungen, die darin enthalten waren, und Johannes wollte etwas über den Inhalt eines jeden Buches erfahren.
Von nun an besuchte der Junge regelmäßig das Scriptorium. Bald sollte sich jedoch herausstellen, dass die Zeit zwischen Terz und Sext nicht ausreichte. Der Junge war voller Neugier, und Jordanus wusste als erfahrener Novizenmeister, dass man diesen Wissensdurst nutzen konnte.
An den folgenden Tagen zeigte er Johannes vielerlei Handschriften, die im Kloster angefertigt oder als Geschenk nach Loccum gekommen waren.
«All diese Bücher sind sorgfältig Buchstabe für Buchstabe geschrieben. Die wesentliche Aufgabe der Skriptoren, so nennt man die Schreiber, ist
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