Das Vermächtnis von Erdsee
konnte er nicht sagen. Er hielt seinen grünen Weidenstab, doch in seiner Hand war er nur Holz. Von den Vieren rührte sich nur der Pförtner. Er trat einen Schritt vor und schaute von einem Mann zum Nächsten. »Ihr habt mir vertraut, als ihr mir eure Namen gabt. Werdet ihr mir nun auch vertrauen?«
»Mein Herr, wir vertrauen Euch«, sagte einer der Männer; er hatte ein feines, dunkles Gesicht und einen Zauberstab aus Eiche. »Und daher bitten wir Euch: Lasst die Hexe gehen, dann soll wieder Frieden sein.«
Irian trat vor, bevor der Pförtner antworten konnte.
»Ich bin keine Hexe«, sagte sie. Ihre Stimme klang hoch und metallisch nach den tiefen Männerstimmen. »Ich beherrsche keine Künste, habe kein Wissen. Ich bin gekommen, um zu lernen.«
»Wir unterrichten hier keine Frauen«, erwiderte der Windschlüssel. »Ihr wisst das.«
»Ich weiß gar nichts«, sagte Irian. Sie trat noch weiter vor, bis sie genau vor dem Magier stand. »Sagt mir, wer ich bin.«
»Lerne, wo dein Platz ist, Weib«, entgegnete der Magier mit kalter Leidenschaft.
»Mein Platz«, sagte sie langsam, die Worte dehnend, »mein Platz ist auf dem Hügel. Wo die Dinge sind, was sie sind. Sagt dem toten Mann, dass ich ihn dort treffen will.«
Der Windschlüssel stand schweigend da, aber die Gruppe der Männer murrte ärgerlich und einige von ihnen traten vor. Azver stellte sich zwischen Irian und sie, und als er sprach, befreiten ihn seine Worte aus der Lähmung von Körper und Geist, die ihn vorübergehend befallen hatte: »Wenn er eintrifft, werden wir dort sein. Nun komm mit mir«, sagte er zu Irian. Der Namengeber, der Pförtner und der Kräuterkundige folgten ihm in den Hain. Vor ihnen tat sich ein Pfad auf. Doch als einige der jungen Männer ihnen folgen wollten, gab es keinen Pfad mehr.
»Kommt zurück«, sagte der Windschlüssel zu den Männern.
Sie kehrten um, zögernd. Die tief stehende Sonne leuchtete immer noch auf den Feldern und Dächern des Großhauses, doch im Hain war alles Schatten.
»Hexerei«, raunten sie, »Sakrileg, Schändung.«
»Besser, wir gehen«, sagte Meister Windschlüssel, das Gesicht hart und düster, die scharfen Augen verärgert. Er ging in Richtung Schule, und sie trotteten hinter ihm her, schimpfend und debattierend, voller Frustration und Ärger.
Sie waren noch nicht weit in den Hain hineingegangen, immer noch am Bach entlang, als Irian stehen blieb, zur Seite trat und sich neben die riesige, krumme Wurzel einer Weide kauerte, die sich über das Wasser neigte.
»Sie hat mit dem anderen Atem gesprochen«, sagte Azver.
Der Namengeber nickte.
»So müssen wir ihr folgen?«, fragte der Kräuterkundige.
Diesmal war es der Pförtner, der nickte. Er lächelte leicht und sagte: »Es sieht ganz so aus.«
»Sehr gut«, meinte der Kräuterkundige mit seinem geduldigen, besorgten Blick, trat etwas zur Seite und kniete nieder, um auf dem Waldboden eine Pflanze oder einen Pilz zu betrachten.
Die Zeit verging wie immer im Hain, scheinbar stand sie still und war doch schon vergangen, in ein paar tiefen Atemzügen war der Tag vergangen, in einem Blätterrascheln oder dem Gesang eines Vogels in den Feme, dem ein anderer aus noch weiterer Feme antwortete. Irian stand langsam auf. Sie sprach nicht, aber sie betrachtete den Weg und ging ihn dann hinunter. Die vier Männer folgten ihr.
Sie traten in die ruhige Abendluft hinaus. Im Westen war noch ein Leuchten zu sehen, als sie den Thwilbach überquerten und über die Felder auf den Rokkogel zugingen, der sich in einer dunklen Linie vor dem Himmel abzeichnete.
»Sie kommen«, sagte der Pförtner. Männer kamen den Pfad zwischen den Gärten vom Großhaus herauf, sämtliche Magier und viele von den Schülern. Angeführt wurden sie von Thorion, dem Gebieter, mächtig in seinem grauen Umhang und mit dem schlanken Stab aus knochenweißem Holz, über dem das schwache Leuchten eines Werlichts schwebte.
Wo die beiden Pfade zusammentrafen, um sich dann vereint zur Höhe des Kogels hinaufzuwinden, machte Thorion Halt und wartete auf sie. Irian schritt auf ihn zu, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Irian aus Weg«, sagte der Gebieter mit seiner klaren, tiefen Stimme, »damit wieder Frieden und Ordnung einkehren, und zur Rettung des Gleichgewichts aller Dinge bitte ich dich, diese Insel nun zu verlassen. Wir können dir nicht geben, was du begehrst, und deshalb bitten wir dich um Verzeihung. Doch wenn du vorhast, hier zu bleiben, so verwirkst du alle Verzeihung und musst
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