Das Vermächtnis von Erdsee
fragte der Kräuterkundige, von Azvers Leidenschaft angesteckt. »Sperber ist dort.«
»Tenar vom Ring ist dort«, sagte der Namengeber.
Still standen sie da, unschlüssig, versuchten Hoffnung zu schöpfen.
Irian stand ebenfalls schweigend da, aber ihre Hoffnung sank und an deren Stelle trat ein Gefühl von Scham und völliger Bedeutungslosigkeit. Das waren aufrechte, weise Männer, die sich dafür einsetzten, das, was sie liebten, zu retten, aber sie wussten nicht, wie sie es anstellen sollten. Und sie hatte keinen Anteil an ihrer Weisheit, spielte keine Rolle bei ihren Entscheidungen. Sie entfernte sich von ihnen und sie merkten es nicht einmal. Sie ging weiter, lief zum Thwilbach, wo er aus dem Wald heraustrat und über Felsen einen kleinen Wasserfall bildete. Das Wasser glänzte im Licht der Morgensonne und plätscherte munter dahin. Sie wollte weinen, aber sie hatte nie gut weinen können. Sie stand da und beobachtete das Wasser und aus ihrer Scham wurde langsam Ärger.
Sie kam zu den drei Männern zurück. »Azver!«
Überrascht wandte er sich zu ihr um und kam ihr ein Stück entgegen.
»Warum habt Ihr meinetwegen die Regel verletzt? War das gerecht mir gegenüber? Wer kann je sein, was Ihr für mich seid?«
Azver runzelte die Stirn. »Der Pförtner hat dich eingelassen, weil du darum gebeten hast«, sagte er. »Ich habe dich in den Hain gebracht, weil die Blätter der Bäume deinen Namen flüsterten, lang bevor du hierher gekommen bist. Irian, flüsterten sie, Irian. Warum du gekommen bist, weiß ich nicht, aber Zufall war es bestimmt nicht. Der Gebieter weiß das auch.«
»Vielleicht bin ich gekommen, um ihn zu vernichten.«
Er sah sie an und sagte nichts darauf.
»Vielleicht bin ich gekommen, Rok zu vernichten.«
Da leuchteten seine blassen Augen auf. »Versuch es!«
Ein Schauder lief durch sie hindurch, als sie ihm so gegenüber stand. Sie fühlte sich weiter, als er war, weiter, als sie selbst war, unermesslich weit. Sie brauchte nur einen Finger auszustrecken, um ihn zu vernichten. Er stand da in seiner biederen, braven, beschränkten Menschlichkeit, seiner Sterblichkeit und Schutzlosigkeit. Sie holte lang und tief Atem. Sie trat einen Schritt zurück.
Das Gefühl immenser Kraft verließ sie. Sie drehte den Kopf ein wenig und sah hinunter, überrascht, die eigenen braunen Arme zu sehen, die hochgekrempelten Ärmel, das Gras, das kühl und grün um ihre Füße in den Sandalen stand. Sie sah noch einmal den Formgeber an und immer noch erschien er ihr als ein zerbrechliches Wesen. Sie bedauerte und ehrte ihn. Sie wollte ihn vor der Gefahr warnen, in der er schwebte. Aber es fielen ihr keine geeigneten Worte ein. Sie drehte sich um und ging wieder ans Bachufer bei dem kleinen Wasserfall. Dort sank sie nieder und verbarg das Gesicht in den Armen, ihn ausschließend, die Welt ausschließend.
Die Stimmen der sprechenden Magier waren wie die Stimmen des fließenden Wassers. Das Wasser sprach seine Worte und sie sprachen ihre, aber beides waren nicht die richtigen Worte.
4. Irian
Als Azver zu den anderen Männern zurückkehrte, war da etwas in seinem Gesicht, was den Kräuterkundigen veranlasste zu fragen: »Was ist los?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Vielleicht sollten wir Rok nicht verlassen.«
»Vermutlich können wir es gar nicht«, gab der Kräuterkundige zu bedenken. »Wenn der Windschlüssel die Winde gegen uns loslässt...«
»Ich kehre dorthin zurück, wo ich bin«, sagte Kurremkarmerruk plötzlich. »Ich lasse mich selbst nicht gern herumliegen wie einen alten Schuh. Ich bin heute Abend wieder bei Euch.« Und war verschwunden.
»Ich würde gern ein wenig unter Euren Bäumen spazieren gehen, Azver«, bat der Kräuterkundige mit einem langen Seufzer.
»Geht nur, Deyala. Ich bleibe hier.« Der Kräuterkundige ging davon. Azver setzte sich auf die rohe Bank, die Irian an die Vorderseite des Hauses gerückt hatte. Er schaute nach ihr, die etwas weiter oben am Bach reglos am Ufer kauerte. Schafe zwischen ihnen und dem Großhaus meckerten leise. Die Morgensonne wurde langsam heiß.
Sein Vater hatte ihn Kriegsbanner genannt. Er war nach Westen gekommen und hatte dabei alles, was er wusste, hinter sich gelassen; seinen wahren Namen hatte er von den Bäumen des Immanenten Hains gelernt und war der Formgeber von Rok geworden. Das ganze Jahr über hatten sämtliche Formen seiner Schatten, alle Äste und Wurzeln, hatte die ganze stumme Sprache seines Waldes von Zerstörung gekündet,
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