Das Vermächtnis von Erdsee
von Überschreitung und dem Wandel aller Dinge. Eben das stand ihnen nun bevor, das wusste er. Und es war mit ihr gekommen.
Er war für sie verantwortlich, sie war ihm anvertraut, er hatte das gewusst, sobald er sie gesehen hatte. Obwohl sie gekommen war, um Rok zu zerstören, wie sie sagte, musste er ihr dienen. Er tat es bereitwillig. Sie war mit ihm durch den Wald gegangen, groß, unbeholfen, unerschrocken; mit ihren großen Händen hatte sie behutsam die dornigen Brombeerranken beiseite geschoben. Ihre Augen, bernsteinfarben wie das Wasser des Thwilbachs im Schatten, hatten alles betrachtet; sie war still gewesen. Er wollte sie schützen und wusste, dass er es nicht konnte. Er hatte ihr etwas Wärme gegeben, als ihr kalt gewesen war. Mehr hatte er ihr nicht zu geben. Sie würde gehen, wohin sie gehen musste. Sie verstand nichts von Gefahr. Sie besaß keine Weisheit außer ihrer Unschuld, keine Rüstung außer ihrem Ärger. Wer bist du, Irian?, fragte er sie, als er sie dort kauern sah wie ein in seiner Stummheit gefangenes Tier.
Sein Freund kam aus dem Wald zurück und setzte sich ein Weilchen neben ihm auf die Bank. Gegen Mittag kehrte er ins Großhaus zurück und versicherte, er werde am nächsten Morgen mit dem Pförtner wiederkommen. Sie würden alle anderen Meister auffordern, mit ihnen im Hain zusammenzutreffen. »Aber er wird nicht kommen«, sagte Delaya, und Azver nickte.
Der ganzen Tag blieb er in der Nähe des Otter-Hauses, behielt Irian im Auge und sorgte dafür, dass sie mit ihm etwas aß. Sie kam zum Haus, doch sobald sie gegessen hatten, kehrte sie an ihren Platz am Bachufer zurück und verharrte dort reglos. Und auch er fühlte eine schwere Lähmung in Körper und Geist, eine Stumpfheit, gegen die er ankämpfte, die er aber nicht abschütteln konnte. Er dachte an die Augen des Gebieters, und da wurde ihm kalt, so durch und durch kalt, obwohl er doch in der prallen Hitze des Sommertags saß. Über uns herrscht der Tod, dachte er. Der Gedanke sollte ihn nicht mehr loslassen.
Er war dankbar, als Kurremkarmerruk langsam von Norden her durch das Bett des Thwilbachs herunterkam. Der alte Mann watete barfuß durchs Wasser, die Schuhe in der einen Hand und seinen langen Stab in der anderen, und er murrte unwillig, wenn er auf den Steinen ausglitt. Er setzte sich diesseits des Baches auf die Böschung, trocknete sich die Füße ab und zog die Schuhe wieder an. »Wenn ich zum Turm zurückkehre«, brummte er, »dann fahre ich. Miete mir einen Wagen und kaufe ein Maultier dazu. Ich bin alt, Azver.«
»Komm herauf ins Haus«, sagte der Formgeber und stellte Wasser und etwas zu essen für den Namengeber hin.
»Wo ist das Mädchen?«
»Sie schläft.« Azver deutete mit dem Kopf auf die Stelle oberhalb der Wasserfälle, wo sie zusammengerollt im Gras lag.
Die Hitze des Tages ließ langsam nach und die Baumschatten des Hains legten sich über die Wiese; Otters Haus freilich lag immer noch im Sonnenlicht. Kurremkarmerruk saß auf der Bank, den Rücken gegen die Hauswand gelehnt, und Azver kauerte auf der Schwelle.
»Wir sind am Ende angelangt«, sagte der alte Mann in die Stille hinein.
Azver nickte stumm.
»Was hat Euch hierher geführt, Azver?«, fragte der Namengeber. »Das wollte ich Euch schon lange einmal fragen. Ein sehr, sehr weiter Weg hierher. Ihr in den kargischen Ländern habt keine Magier, oder?«
»Nein. Aber wir haben die Dinge, aus denen Magie gemacht ist: Wasser, Steine, Bäume, Worte...«
»Aber nicht die Worte des Erschaffens.«
»Nein. Und auch keine Drachen.«
»Nie?«
»Nur in einigen sehr, sehr alten Sagen. Bevor die Götter da waren. Bevor die Menschen da waren. Bevor die Menschen waren, gab es Drachen.«
»Das ist von Bedeutung«, sagte der alte Gelehrte und setzte sich aufrecht hin. »Ich habe Euch erzählt, dass ich etwas über Drachen gelesen habe. Ihr habt wohl auch gehört, dass es heißt, sie flögen über das Innenmeer bis nach Gont herauf. Das muss Kalessin gewesen sein, der Ged nach Haus brachte, aufgebauscht natürlich durch das Seemannsgarn, das aus einer guten eine bessere Geschichte macht. Aber ein Bursche hat mir hoch und heilig geschworen, dass in seinem Dorf Drachen gesichtet wurden, alle dort haben dieses Frühjahr westlich vom Berg Onn welche gesehen. Daher habe ich in alten Büchern nachgelesen, seit wann sie östlich von Pendor nicht mehr zu sehen waren. Und in einem davon habe ich Eure Geschichte gefunden oder so etwas Ähnliches. Dass Menschen und
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