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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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lernen, was auf Übertretung folgt.«
    Sie richtete sich auf; sie war fast so groß wie er und genauso aufrecht. Eine Minute lang entgegnete sie nichts, dann sagte sie mit ihrer hohen, schneidenden Stimme: »Komm hinauf auf den Hügel, Thorion!«
    Sie ließ ihn an der Weggabelung am Fuß des Hügels stehen und ging auf dem Pfad ein kleines Stück bergauf. Nur wenige Schritte. Dann wandte sie sich um und sah auf ihn hinab. »Was hält dich vom Hügel fern?«, fragte sie.
    Die Luft ringsum war dunkel geworden. Im Westen war jetzt nur noch eine schwache rote Linie zu sehen, der östliche Himmel hing schattig über dem Meer.
    Der Gebieter schaute zu Irian hinauf. Langsam hob er die Arme und den weißen Stab zu einer Anrufung in der Sprache, die alle Zauberer und Magier von Rok gelernt hatten, der Sprache ihrer Kunst, der Sprache des Erschaffens: »Irian, bei deinem Namen gebiete ich dir und verpflichte dich, mir zu gehorchen!«
    Sie zögerte, für einen Augenblick schien sie aufgeben und zu ihm laufen zu wollen, dann aber rief sie: »Ich bin nicht nur Irian!«
    Bei diesen Worten rannte der Gebieter zu ihr hinauf, streckte die Arme nach ihr aus und versuchte sie zu fassen, sie zu ergreifen, festzuhalten. Sie waren nun beide auf dem Hügel. Unerreichbar hoch stand sie über ihm, Feuer brach zwischen ihnen aus. Das Auflodem einer roten Flamme in der dunklen Luft, das Leuchten rotgoldener Waagschalen, weite Schwingen... Dann war alles verschwunden, und da war nichts weiter als die Frau, die auf dem Pfad zum Hügel stand, und der alte Mann, der sich vor ihr verneigte, langsam zur Erde niedersank und sich dort hinlegte.
    Als Erster von allen rührte sich der Kräuterkundige, der Heiler. Er ging den Pfad hinauf und kniete neben Thorion nieder. »Mein Herr«, sagte er, »mein Freund.«
    Unter den Stofffalten des grauen Umhangs fanden seine Hände nichts als ein Häufchen Kleider, trockene Knochen und einen zerbrochenen Stab.
    »Es ist besser so, Thorion«, sagte er, aber er weinte dabei.
    Der alte Namengeber trat vor und fragte die Frau auf dem Hügel: »Wer bist du?«
    »Ich kenne meinen anderen Namen nicht«, sagte sie. Sie sprach, wie er gesprochen hatte, wie sie mit dem Gebieter gesprochen hatte, in der Sprache des Erschaffens, welche die Sprache der Drachen ist.
    Sie wandte sich ab und ging weiter den Hügel hinauf.
    »Irian«, rief Azver, der Formgeber, »wirst du zu uns zurückkommen? «
    Sie blieb stehen und ließ ihn zu sich heraufkommen. »Ich komme, wenn ihr mich ruft«, sagte sie.
    Sie streckte eine Hand aus und berührte die seine. Er atmete tief ein.
    »Wohin wirst du gehen?«, fragte er.
    »Zu denen, die mir meinen Namen geben. In Feuer, nicht Wasser. Zu meinem Volk.«
    »Im Westen«, sagte er.
    Sie antwortete: »Jenseits des Westens.«
    Dann wandte sie sich von ihm und den anderen ab und stieg in der zunehmenden Dunkelheit den Hügel hinauf. Als sie sich weiter von ihnen entfernte, sahen sie alle: die großen, golden gepanzerten Flanken, den mit Zacken bewehrten und eingerollten Schwanz, die Krallen und den Atem, der loderndes Feuer war. Auf der Spitze des Hügels hielt sie kurz inne, wandte den großen Kopf und ließ den Blick über die ganze Insel Rok schweifen; am längsten verweilte sie bei dem Hain, der jetzt nur ein Fleck in der Dunkelheit war. Dann, mit einem Knall wie beim Zusammenschlagen von Messingplatten, öffneten sich die weiten Flügel und der Drache sprang in die Luft, flog einmal um den Rokkogel herum und davon.
    Feuerfunken und ein Geruch nach Rauch schwebten durch die dunkle Luft auf die Erde herab.
    Azver, der Formgeber, stand da, mit der linken Hand hielt er sich die rechte, die durch ihre Berührung versengt war. Er schaute hinunter zu den Männern, die schweigend am Fuß des Hügels standen und dem Drachen nachstarrten. »Gut, meine Freunde«, sagte er. »Was nun?«
    Nur der Pförtner antwortete. »Ich glaube, wir sollten in unser Haus gehen und die Türen öffnen.«

Eine Beschreibung von Erdsee

    Völker und Sprachen
     
    Völker
     
    Das bardische Land
     
    Das hardische Volk im Archipel lebt von Ackerbau, Viehzucht, Fischfang, Handel und dem üblichen, für vorindustrielle Gesellschaften typischen Handwerk und Kunstgewerbe. Die Bevölkerungszahl ist gleichbleibend, und das hardische Volk hat den beschränkten bewohnbaren Raum, der ihm zur Verfügung steht, nie überbevölkert. Hunger ist unbekannt und Armut nimmt selten krasse Formen an.
    Kleine Inseln und Dörfer werden gewöhnlich von

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