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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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ein glitzerndes Dach, unter dem Dach ist das Haus des Königs. Das Dach steht hoch über dem Boden, auf hohen Säulen. Der Boden ist rot. Und die Säulen sind rot. Auf ihnen leuchtende Runen.«
    Gelluk hielt den Atem an. Zugleich sagte er sehr sanft: »Kannst du die Runen lesen?«
    »Ich kann sie nicht lesen.« Otters Stimme war tonlos. »Ich kann nicht hingehen. Niemand kann in diesen Leib eintreten außer dem König. Nur er kann lesen, was da geschrieben steht.«
    Gelluks weißes Gesicht war noch weißer geworden, sein Kinn zitterte ein wenig. »Bring mich dorthin«, befahl er und versuchte, sich zu beherrschen, zwang Otter jedoch so gewaltsam zum Aufstehen, dass der junge Mann torkelnd auf die Füße kam, ein paar Schritte vorwärts stolperte und beinahe hingefallen wäre. Dann ging er voran, steif und ungeschickt, bemüht, dem drängenden, leidenschaftlichen Willen, der seine Schritte beschleunigte, keinen Widerstand entgegenzusetzen.
    Gelluk presste sich eng an ihn und packte ihn oft beim Arm. »Hier entlang«, sagte er mehrmals. »Ja, ja! Das ist der Weg.« Und doch folgte er Otter. Seine Berührung und sein Zauber trieben ihn vorwärts, doch in der Richtung, die Otter wählte.
    Sie gingen am Röstturm vorbei, an dem alten Schacht und dem neuen, weiter in das lang gestreckte Tal hinein, wohin Otter Licky geführt hatte, am ersten Tag. Nun war Spätherbst. Damals waren die Büsche und das struppige Gras grün gewesen, jetzt waren sie grau und vertrocknet, und der Wind rupfte die letzten Blätter von den Sträuchem. Zu ihrer Linken strömte ein Fluss tief eingebettet durch Weidendickicht dahin. Mildes Sonnenlicht und lange Schatten fielen in Streifen über die Hänge der Hügel.
    Otter wusste, dass der Augenblick kommen würde, da er sich von Gelluk befreien könnte: Darüber hatte er letzte Nacht Gewissheit erlangt. Er wusste auch, dass er Gelluk in diesem selben Augenblick besiegen und entmachten konnte, wenn der Zauberer, von seinen Visionen getrieben, verwundbar war - und wenn er seinen Namen in Erfahrung bringen konnte.
    Durch Zauberbann des Magiers waren ihre Geister noch immer verbunden. Otter drang rasch in Gelluks Geist vor, auf der Suche nach seinem wahren Namen. Doch er wusste nicht, wo er suchen musste, und auch nicht, wie. Einen Finder, der seine Fertigkeit nicht kannte; Seiten eines Lehrbuchs voller Worte ohne Bedeutung und die Vision, die Gelluk beschrieben hatte - ein großer Palast mit roten Mauern, wo silberne Runen über purpurne Säulen flimmerten. Aber Otter konnte das Buch der Runen nicht lesen. Er hatte nie lesen gelernt. Mehr entdeckte Otter nicht in Gelluks Geist.
    Die ganze Zeit über entfernten er und Gelluk sich immer weiter vom Turm, weg von Anieb, deren Gegenwart manchmal schwächer wurde und verblasste und die Otter nicht zu beschwören wagte.
    Nur ein paar Schritte vor ihnen lag nun die Stelle, wo unterirdisch, zwei, drei Fuß unter ihnen, dunkles Wasser durch weiche Erde kroch und über einer Glimmerschicht versickerte. Darunter öffneten sich die Höhle und die Ader mit Zinnober.
    Gelluk war fast völlig in seine eigenen Visionen versunken, aber da seine Gedanken und die Otters miteinander verwoben waren, sah er auch etwas davon, was Otter sah. Er blieb stehen und packte Otters Arm. Seine Hand bebte vor Begierde.
    Otter deutete auf den Hügelrücken, der sich vor ihnen erhob. »Das Haus des Königs liegt dort«, sagte er. Da wandte Gelluk seine Aufmerksamkeit völlig von ihm ab, konzentrierte sich auf den Hügelrücken und die Vision, die sich ihm dort bot. Jetzt konnte Otter Anieb anrufen. Sofort trat sie ein in seinen Geist und sein Wesen und war bei ihm.
    Gelluk stand still. Aber seine zitternden Hände waren zusammengepresst, sein ganzer großer Körper zuckte und bebte wie ein Hund, der ein Wild hetzen möchte, aber die Fährte nicht aufnehmen kann. Er wusste nicht weiter. Da lag der Hügelrücken mit seinen Büschen im letzten Sonnenlicht, aber es gab keinen Eingang. Gras spross aus Erde und Schotter; aus der samenlosen Erde.
    Obwohl Otter sich die Worte nicht überlegt hatte, sprach Anieb mit seiner Stimme, mit derselben schwachen, schwerfälligen Stimme. »Nur der Meister kann die Tür öffnen. Nur der König hat den Schlüssel.«
    »Den Schlüssel«, wiederholte Gelluk.
    Otter stand reglos da, ausgelöscht, wie Anieb in jenem Raum im Turm dagestanden hatte.
    »Den Schlüssel«, wiederholte Gelluk mit Dringlichkeit.
    »Der Schlüssel ist der Name des Königs.«
    Das war

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