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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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lachte. »Ich werde ihn erwarten«, sagte er. Und die Beine des Mannes wurden wieder zu gelben Krallen, seine Arme zu weiten Fittichen und der Adler schwang sich hoch hinauf und warf sich gegen den Wind.
    Hund schniefte, seufzte und trottete ihm widerwillig hinterher, während hinter ihm im Dorf das Feuer langsam verebbte, Kinder weinten und Frauen dem Adler Flüche nachriefen.
     
    Wenn man versucht, Gutes zu tim, besteht die Gefahr, dass man die gute Absicht mit der guten Tat selbst verwechselt. Doch daran dachte Otter nicht, als er rasch nach Yennava hinunterschwamm. Er dachte an gar nichts, außer an seine Richtung und Geschwindigkeit und an den lauen Geschmack von Flusswasser und die sanfte Macht des Schwimmens. Aber etwas Ähnliches war Medra durch den Kopf gegangen, als er in Endweg im Haus seiner Großmutter am Tisch gesessen und sich mit seiner Mutter und seiner Schwester unterhalten hatte, kurz bevor die Tür auf geflogen war und diese schreckliche strahlende Gestalt dagestanden hatte.
    Medra war ohne böse Absicht nach Havnor gekommen und doch hatte er nicht wieder gut zu machenden Schaden angerichtet. Männer, Frauen und Kinder hatten seinetwegen sterben müssen, nur weil er da war. Sie waren unter Qualen gestorben, bei lebendigem Leibe verbrannt. Er hatte seine Schwester und seine Mutter, sich selbst und damit Rok schrecklichen Gefahren ausgesetzt. Wenn Früh (von dem er nur den gewöhnlichen Namen und seinen Ruf kannte) ihn gefangen nahm und ihn benutzte, wie man sich von ihm erzählte, dass er nämlich die Hirne seiner Opfer leerte wie Säckchen, dann wären alle auf Rok der Macht des Zauberers, den Flotten und Heeren unter seinem Befehl hilflos ausgeliefert gewesen. Medra hätte dann Rok an Havnor verraten, wie der Zauberer, dessen Name nie genannt wurde, es an Wathort verraten hatte. Vielleicht hatte dieser Mann auch geglaubt, er würde nichts Böses tun.
    Noch einmal hatte Medra vergeblich darüber nachgegrübelt, wie er Havnor sofort und unbemerkt verlassen könne, als der Zauberer erschien.
    Jetzt als Otter dachte er nur, dass er gern Otter bleiben würde, Otter im süßen braunen Wasser, im lebendigen Fluss, für immer. Für einen Otter gibt es keinen Tod, nur Leben bis ans Ende. Doch im geschmeidigen Leib des Tiers lebte der sterbliche Geist; und wo der Fluss westlich von Samory am Hügel entlang fließt, tauchte der Otter an einem schlammigen Ufer auf, und dann hockte ein Mann da, zitternd.
    Wohin nun? Warum war er hierher gekommen?
    Er hatte es sich nicht überlegt. Er hatte die Gestalt angenommen, die ihm als Erste einfiel, war zum Fluss gelaufen, wie nur ein Otter es konnte, und war geschwommen, wie ein Otter schwämme. Aber nur in seiner eigenen Gestalt konnte er nachdenken wie ein Mensch, sich verstecken, Entscheidungen treffen, sich als Mensch oder Zauberer gegen den Zauberer stellen, der ihn jagte.
    Er wusste, dass er für Früh kein Gegner war. Dessen ersten Bindezauber zurückzuweisen hatte ihn seine gesamte Widerstandskraft gekostet; Täuschung und Gestaltwechsel, das war alles, was ihm an Zaubermitteln zur Verfügung stand. Wenn er dem Zauberer noch einmal begegnete, würde der ihn vernichten. Und Rok mit ihm. Rok und seine Kinder, Elehal und ihre Liebe, und Veil, Corvid, Dora, alle miteinander, den Brunnen im weißen Hof, den Baum beim Brunnen. Nur der Hain würde stehen bleiben. Nur die grünen Hügel, still und unwandelbar. Er hörte Elehal sagen: Aber dazwischen liegt Havnor. Er hörte sie sagen: Alle wahre Macht, alle Ur-mächte sind im Grunde eins.
    Er sah auf. Der Hügelrücken über dem Fluss war derselbe Hügel, zu dem er damals mit Tinaral gekommen war, Anieb bei und in ihm. Es waren nur ein paar Schritte zu der Narbe, der Naht, die unter dem hohen sommerlichen Gras immer noch deutlich zu erkennen war.
    »Mutter«, sagte er da auf den Knien, »Mutter, öffne dich für mich.«
    Er legte die Hände auf die Narbe aus Erde, aber sie waren kraftlos.
    »Lass mich ein, Mutter«, flüsterte er in einer Sprache, die so alt war wie der Hügel. Der Boden bebte leicht und öffnete sich.
    Er hörte den Schrei eines Adlers. Er stand auf. Er tat einen Satz in die Dunkelheit.
    Der Adler kam näher, kreiste und schrie über dem Tal, über dem Hügelrücken, den Weiden am Fluss. Er kreiste, suchte und suchte und flog wieder zurück, wie er gekommen war.
    Lange Zeit später, am späten Nachmittag, kam Hund durch das Tal heraufgetrottet. Ab und zu blieb er stehen und schniefte. Er setzte sich

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