Das Vermächtnis von Erdsee
auf dem Hügelrücken neben die Narbe im Boden und ruhte die müden Beine aus. Er untersuchte den Boden, wo ein paar Krümel frischer Erde lagen und das Gras platt gedrückt war. Er strich über das geknickte Gras, um es aufzurichten. Schließlich stand er auf, trank unter den Weiden etwas von dem klaren braunen Wasser und kehrte ins Tal zum Bergwerk zurück.
Medra erwachte mit Schmerzen und im Dunkeln. Lange Zeit nahm er nichts anderes wahr. Der Schmerz kam und ging, die Dunkelheit hielt an. Einmal hellte sie sich etwas auf zu einer Art Zwielicht. Da sah er von dort aus, wo er lag, eine schiefe Ebene auf eine Steinwand zulaufen, dahinter wieder Dunkelheit. Aber er konnte nicht aufstehen und zu der Wand hinübergehen, und jetzt kehrte der Schmerz mit aller Heftigkeit wieder, in Arm, Hüfte und im Kopf. Dann erhob sich die Dunkelheit um ihn und dann nichts mehr.
Durst und gleichzeitig Schmerzen. Durst und das Geräusch fließenden Wassers.
Er versuchte sich zu erinnern, wie man Licht machte. Jammernd hatte Anieb zu ihm gesagt: »Kannst du nicht Licht machen?« Aber er konnte es nicht. Er kroch im Dunkeln vorwärts, bis das Geräusch des Wassers deutlich und der Felsen unter ihm nass wurde, und er tastete herum, bis seine Hand Wasser fand. Er trank und versuchte, von den nassen Felsen wegzukriechen, denn ihm war sehr kalt. Ein Arm tat ihm weh und war völlig kraftlos. Auch der Kopf tat weh, und er wimmerte, zitterte und krümmte sich zusammen in dem Versuch, etwas Wärme zu finden. Aber es gab keine Wärme und kein Licht.
Er saß etwas abseits von der Stelle, wo er lag, sah sich selbst, obwohl es immer noch völlig finster war. Er lag da, ein zusammengekrümmtes Häuflein, dort, wo das Wasser von der Glimmerschicht herunter sickerte. Unweit davon lag ein anderes zusammengekrümmtes Häuflein, verrottete rote Seide, lange Haare, Knochen. Dahinter verengte sich die Höhle. Er sah, dass ihre Räume und Gänge sich viel weiter in die Tiefe erstreckten, als er gedacht hatte. Er sah dies mit derselben teilnahmslosen Aufmerksamkeit, mit der er Tinerais Körper und den eigenen betrachtete. Er fühlte ein mattes Bedauern. Es war nur gerecht, dass er hier starb, bei dem Mann, den er ermordet hatte. Das war recht so. Nichts war falsch. Doch etwas in ihm schmerzte, nicht der scharfe körperliche Schmerz, sondern ein lang anhaltender, ein lebenslänglicher Schmerz.
»Anieb«, sagte er.
Dann war er wieder in sich selbst zurückgekehrt, mit dem scharfen Schmerz in Arm, Hüfte und Kopf, krank und benommen in der Dunkelheit. Sobald er sich bewegte, musste er stöhnen; doch er setzte sich auf. Ich muss leben, dachte er. Ich muss mich erinnern, wie man lebt. Wie man Licht macht. Ich muss mich erinnern. Ich muss mich an die Schatten der Blätter erinnern.
Wie weit reicht der Wald?
So weit wie der Geist.
Er schaute nach oben in die Dunkelheit. Nach einer Weile bewegte er die gesunde Hand ein wenig und ein schwaches Licht floss heraus.
Das Dach der Höhle war hoch über ihm. Die Tropfen Wasser, die von der Glimmerschicht herabsickerten, blitzten im Werlicht kurz auf.
Jetzt konnte er nicht mehr mit teilnahmslosem, blicklosem Auge in die Räume und Gänge der Höhle schauen wie zuvor. Er konnte nur sehen, was das schwache Flackern des Werlichts um ihn herum und vor ihm zeigte. Wie damals, als er mit Anieb durch die Nacht auf ihren Tod zugegangen war, jeder Schritt ein Schritt in die Finsternis.
Er kam auf die Knie und flüsterte: »Dank dir, Mutter.« Er kam auf die Füße und fiel wieder hin, weil seine linke Hüfte nachgab und er vor Schmerz laut aufschrie. Nach einer Weile versuchte er es noch einmal und stand auf. Dann ging er voran.
Er brauchte lange, um die Höhle zu durchqueren. Er steckte den kranken Arm ins Hemd und presste die gesunde Hand gegen das Hüftgelenk, was ihm das Gehen ein wenig erleichterte. Die Wände rückten zusammen zu einem schmalen Durchgang. Hier war die Decke viel niedriger, unmittelbar über seinem Kopf. Wasser sickerte die Wände herunter und sammelte sich in Tümpeln auf den Felsen unter seinen Füßen. Es war nicht der wunderbare rote Palast aus Tinarals Vision, mystische Runen und hohe, sich verzweigende Säulen. Hier gab es nur Erde, Schmutz, Felsen, Wasser. Die Luft war kühl und ruhig. Abseits von dem tröpfelnden Wasser war es vollkommen still. Außerhalb des Scheins vom Werlicht war es dunkel.
Medra senkte den Kopf, als er dastand. »Anieb«, sagte er, »kannst du so weit
Weitere Kostenlose Bücher