Das Vermächtnis von Erdsee
die Dachbalken, von denen Kräuterbüschel herabhingen. Er war sehr aufgeregt und erschöpft, da er in siebzehn Stunden vierzig Meilen zurückgelegt hatte, ohne etwas zu essen.
»Wo ist deine Mutter?«, hauchte er.
»Sie wacht bei der alten Ferny. Sie ist heute Nachmittag gestorben, Mutter wird die ganze Nacht dort bleiben. Aber wie bist du hierher gekommen?«
»Zu Fuß.«
»Hat der Zauberer dich auf Besuch nach Hause gelassen?«
»Ich bin weggelaufen.«
»Weggelaufen! Warum?«
»Um dich nicht zu verlieren.«
Er sah sie an, sah in ihr lebhaftes, stolzes, dunkles Gesicht, das von der Wolke Kraushaar umrahmt wurde. Sie hatte nur ein Hemd an und darunter erspähte er die unendlich feine, zarte Wölbung ihrer Brüste. Er zog sie wieder an sich, doch obwohl sie ihn umarmte, wich sie zurück, mit gerunzelter Stirn.
»Mich nicht zu verlieren?«, wiederholte sie. »Den ganzen Winter über scheint es dir nicht viel ausgemacht zu haben, ob du mich verlierst. Was hat dich jetzt hierher zurückgeführt?«
»Er wollte, dass ich nach Rok gehe.«
»Nach Rok?« Sie starrte ihn an. »Nach Rok, Di? Dann hast du wirklich eine Begabung - du könntest Zauberer werden?«
Sie auf Hemlocks Seite zu sehen war ein harter Schlag für ihn.
»Zauberer sind nichts in seinen Augen. Er meint, ich könne ein Magier sein. Magie wirken, nicht nur Zaubertricks.«
»Aha, ich verstehe«, sagte Rose nach einem Augenblick. »Aber warum bist du davongelaufen?«
Sie hatten ihre Hände losgelassen.
»Verstehst du denn nicht?«, fragte er, aufgebracht über sie, die nicht verstand, weil er nicht verstanden hatte. »Ein Zauberer darf mit Frauen nichts zu schaffen haben. Mit Hexen. Mit all dem.«
»Oh, ich weiß. Das ist unter ihrer Würde.«
»Es ist nicht nur unter ihrer Würde...«
»Oh, aber so ist es. Ich wette, du musstest alle Zaubersprüche verlernen, die ich dir beigebracht hatte. Stimmt's?«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Nein. Das ist nicht die Hohe Kunst. Es ist nicht die Wahre Sprache. Ein Zauberer darf seine Lippen nicht mit gewöhnlichen Worten beschmutzen. >Schwach wie Frauenzauber, schwach wie Frauenzauber<... meinst du etwa, ich weiß nicht, was sie sagen? Also, warum bist du hierher zurückgekommen?«
»Um dich zu sehen!«
»Wozu?«
»Was meinst du damit?«
»Du hast nie nach mir gesandt, du hast mich nie nach dir senden lassen, all die Zeit über, die du fort warst. Ich soll wohl hier auf dich warten, bis du genug davon hast, den Zauberer zu spielen? Nun, ich hatte genug vom Warten.« Ihre Stimme war fast unhörbar, eine raues Flüstern.
»Da ist jemand anderes«, sagte er, ungläubig, dass sie sich gegen ihn stellte. »Wer ist es?«
»Es geht dich nichts an, ob da jemand ist. Du gehst weg, du kehrst mir den Rücken zu. Zauberer wollen mit all dem, was ich tue und was meine Mutter tut, nichts zu schaffen haben. Nun, ich will mit dir auch nichts mehr zu schaffen haben, nie mehr. Deshalb geh!«
Völlig verhungert, frustriert, missverstanden streckte Diamant noch einmal die Hand nach ihr aus, um seinen Körper unmittelbar zu dem ihren sprechen zu lassen, um diese erste, tiefe Umarmung zu wiederholen, die alle Jahre ihres Lebens in sich geborgen hatte. Da sah er sich selbst zwei Schritte zurückweichen, mit brennenden Händen und klingenden Ohren, die Augen geblendet. Der Blitz kam aus Roses Augen, und aus ihren Händen sprühten Funken, als er sie drückte. »Tu das nie wieder«, flüsterte sie.
»Keine Angst«, sagte Diamant, machte auf dem Absatz kehrt und stürzte hinaus. Ein Zweig trockenen Salbeis verfing sich in seinem Haar und er schleifte ihn hinter sich her.
Die Nacht verbrachte er in ihrer alten Laube im Weidendickicht. Vielleicht hoffte er, sie würde kommen, aber sie tat es nicht und bald schlief er erschöpft vor Müdigkeit ein. Im kalten Licht der Morgenfrühe wachte er auf. Er setzte sich auf und dachte nach, betrachtete das Leben in diesem kalten Licht. Es war anders, als er gedacht hatte. Er ging hinunter zum Fluss, in dem er getauft worden war. Er trank, wusch sich Gesicht und Hände, machte sich so gut wie möglich zurecht und ging durch die Stadt hinauf zu dem schönen Haus am oberen Ende, dem Haus seines Vaters.
Nach den ersten Freudenrufen und Umarmungen setzten die Diener und seine Mutter ihn gleich an den Frühstückstisch. So hatte er warmes Essen im Bauch und verspürte wieder einen gewissen Mut im Herzen, als er seinem Vater gegenübertrat, der vor dem Frühstück schon draußen
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