Das Vermächtnis von Erdsee
Ohne zu wissen, dass er weich war, dachte Golden nur immer wieder, wie weich das Leben war. Er hatte den Reche-Wald gekauft, zu einem ziemlich gesalzenen Preis, sicher, aber wenigstens hatte der alte Zwieg von den Osthügeln ihn nicht bekommen, und jetzt konnten er und Diamant ihn pflegen und hochziehen, wie es sich gehörte. Unter den Kastanien standen eine Menge Kiefern verstreut, die gefällt und für Masten, Spieren und als Kleinholz verkauft werden konnten. Anschließend würde er mit Kastaniensetzlingen aufforsten. Mit der Zeit würde es ein Wald mit reinem Baumbestand werden, wie Silva, das Herz seines Kastanienkönigreiches. Mit der Zeit, sicher. Eiche und Kastanie schießen nicht über Nacht in die Höhe wie Erlen und Weiden. Aber sie hatten ja Zeit. Jetzt hatte er Zeit. Der Junge war eben erst siebzehn und er gerade fünf und vier zig. In der Blüte seiner Jahre. Die ältesten Bäume, die nicht mehr trugen, sollten zugleich mit den Kiefern heraus. Aus ihnen war gutes Möbelholz zu gewinnen.
»Gut, gut, gut«, sagte er oft zu seiner Frau, »wieder rosige Zeiten, hm? Hast deinen Augenapfel wieder, hm? Kein Trübsal mehr, hm?«
Und Tuly lächelte und streichelte seine Hand.
Doch statt zu lächeln und ihm zuzustimmen, sagte sie eines Tages: »Es ist wunderbar, ihn wieder da zu haben, aber...«, und Golden hörte nicht weiter zu. Mütter waren auf der Welt, um sich um ihre Kinder Sorgen zu machen, und Frauen waren auf der Welt, um nie zufrieden zu sein. Es gab keinen Grund, weshalb er sich eine Litanei von Ängsten anhören sollte, die Tuly mit sich durchs Leben trug. Natürlich meinte sie, ein Leben als Kaufmann sei nicht gut genug für ihren Jungen. Selbst wenn er König von Havnor geworden wäre, hätte sie das für nicht gut genug für ihn befunden.
»Wenn er ein Mädchen findet«, erwiderte Golden auf was immer sie eben gesagt hatte, »dann hat er alles, was er braucht. Bei den Zauberern zu leben, du weißt ja, wie die sind, das hat ihn ein bisschen ins Hintertreffen geraten lassen. Mach dir keine Sorgen um Diamant. Er wird wissen, was er will, sobald er es vor sich hat!«
»Ich hoffe es«, meinte Tuly.
»Wenigstens sieht er die Tochter dieser Hexe nicht mehr«, sagte Golden. »Das ist aus und vorbei.« Erst später fiel ihm auf, dass seine Frau die Hexe auch nicht mehr sah. Jahrelang waren sie wie Pech und Schwefel gewesen, gegen jede Warnung, und jetzt lie ß sich Far werran nicht einmal mehr in der Nähe des Hauses blicken. Frauenfreundschaften hielten eben nie. Er neckte sie damit. Als er sah, wie sie Poleiminze und Kampfer in Schränken und Kommoden gegen Motten auslegte, sagte er: »Sieht so aus, als müsstest du deine Freundin, die weise Frau rufen, um sie wegzuhexen. Oder seid ihr keine Freundinnen mehr?«
»Nein«, antwortete darauf seine Frau mit ihrer sanften, eintönigen Stimme, »wir sind keine Freundinnen mehr.«
»Das lob ich mir aber!«, sagte Golden rundheraus. »Was ist denn aus ihrer Tochter geworden? Ist mit einem Gaukler durchgebrannt, habe ich gehört.«
»Mit einem Musikanten«, berichtigte ihn Tuly. »Letzten Sommer.«
»Ein Namenstagsfest«, sagte Golden. »Ein bisschen Spiel, ein bisschen Musik und Tanz, Junge. Neunzehn Jahre alt. Das muss gefeiert werden.«
»Ich bin da aber mit Suis Maultieren auf dem Weg zu den Osthügeln.«
»Nein, nein, nein. Sul kann das allein machen. Bleib du zu Hause und feiere dein Fest. Du hast hart gearbeitet. Wir heuern eine Kapelle an. Welche ist die beste im Land? Tarry und seine Leute?«
»Vater, ich will kein Fest«, erwiderte Diamant und stand auf, schüttelte sich am ganzen Körper wie ein Pferd. Er war jetzt größer als Golden, und wenn er sich unvermutet bewegte, konnte er einem Angst einjagen. »Ich fahre zu den Osthügeln«, beharrte er und verließ den Raum.
»Was soll das alles?«, sagte Golden zu seiner Frau, eine Frage, die keiner Antwort bedurfte. Sie sah ihn an und sagte nichts, was sehr wohl eine Antwort war.
Nachdem Golden hinausgegangen war, fand sie ihren Sohn im Buchhalterraum, über das Hauptbuch gebeugt. Sie schaute auf die Seiten. Lange, lange Listen von Namen und Zahlen, Schulden und Kredite, Gewinne und Verluste.
»Di«, sagte sie und er sah auf. Sein Gesicht war noch immer rundlich und ein wenig wie ein Pfirsich, obwohl die Knochen jetzt schwerer und die Augen melancholisch waren.
»Ich wollte Vaters Gefühle nicht verletzen«, meinte er.
»Wenn er ein Fest will, wird er es auch bekommen«, sagte sie.
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