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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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gewesen war, um eine Kolonne von Holzkarren zum Großhafen zu verabschieden.
    »Nun, mein Sohn!« Sie umarmten sich. »Hat dir Meister Hemlock also frei gegeben?«
    »Nein, Vater. Ich bin gegangen.«
    Golden starrte ihn an, dann füllte er seinen Teller und setzte sich. »Gegangen«, wiederholte er.
    »Ja, Vater. Ich habe beschlossen, kein Zauberer zu werden.«
    »Hm«, meinte Golden kauend. »Aus eigenem Entschluss gegangen? Aus völlig eigenem Entschluss? Mit Erlaubnis des Meisters?«
    »Aus völlig eigenem Entschluss, ohne seine Erlaubnis.«
    Golden kaute sehr langsam, den Blick gesenkt. Diamant hatte diesen Blick an seinem Vater gesehen, als ein Förster von einem Schädlingsbefall in den Kastanienwäldern berichtet hatte oder als er herausgefunden hatte, dass ein Maultierhändler ihn betrogen hatte.
    »Er wollte, dass ich auf die Schule in Rok gehe, um beim Meister des Gebietens zu lernen. Er wollte mich dort hinschicken. Ich habe beschlossen, nicht zu gehen.«
    Nach einer Weile fragte Golden, den Blick noch immer auf dem Tisch gerichtet: »Warum?«
    »Das ist nicht das Leben, das ich führen will.«
    Wieder Schweigen. Golden blickte hinüber zu seiner Frau, die beim Fenster stand und still zuhörte. Dann sah er seinen Sohn an. Langsam machte die Mischung aus Ärger, Missbilligung, Verwirrung und Hochachtung auf seinem Gesicht etwas Einfacherem Platz, einem verschwörerischen Blick, fast einem Zwinkern. »Ich verstehe«, sagte er. »Und was, hast du beschlossen, willst du?«
    Pause. »Das hier«, sagte Diamant. Seine Stimme war eintönig. Er sah weder seinen Vater noch seine Mutter an.
    »Ha!«, sagte Golden. »Gut! Ich würde sagen, ich bin froh darüber, mein Sohn.« Er steckte ein ganzes Schweinepastetchen auf einmal in den Mund. »Ein Zauberer werden, nach Rok gehen, all das kam mir irgendwie nicht ganz wirklich vor. Und mit dir dort draußen, da wusste ich gar nicht, wozu das alles hier gut ist, wenn ich ehrlich sein soll. Mein ganzes Geschäft. Wenn du hier bist, dann stimmt alles, siehst du. Es stimmt einfach. Gut! Aber hör mal, bist du einfach von dem Zauberer weggelaufen? Wusste er, wohin du gehst?«
    »Nein. Ich werde ihm schreiben«, sagte Diamant mit seiner neuen, eintönigen Stimme.
    »Wird er nicht verärgert sein? Es heißt, Zauberer sind jähzornig. Sehr stolz.«
    »Er ist verärgert«, erwiderte Diamant, »aber er wird nichts unternehmen.«
    Und so kam es. Zu Goldens Erstaunen schickte Meister Hemlock tatsächlich peinlich genau berechnet zwei Fünftel des Lehrgelds zurück. Bei dem Paket, das von einem von Goldens Fuhrmännern überbracht wurde, der eine Ladung Bohlen zum Südhafen hinunter gefahren hatte, war eine Botschaft für Diamant. Sie lautete: »Wahre Kunst verlangt ein ganzes Herz.« Als Adresse war außen die hardische Rune für Weide gezeichnet, unterschrieben war die Botschaft mit Hemlocks Rune, die zwei Bedeutungen hatte: die Schierlingspflanze und Leiden.
    Diamant saß in seinem sonnigen Zimmer im oberen Stock, auf seinem bequemen Bett, hörte seine Mutter singend durchs Haus gehen. Er hielt den Brief des Magiers in Händen und las die Botschaft und die beiden Runen wieder und wieder. In der kalten und trägen Gemütsverfassung, die an jenem Morgen unten bei den Weiden von ihm Besitz ergriffen hatte, nahm er den Tadel hin. Keine Magie. Nie mehr. Er war nicht mit ganzem Herzen dabei gewesen. Es war ein Spiel für ihn gewesen, ein Spiel, das er mit Schattenrose gespielt hatte. Sogar die Namen der Wahren Sprache, die er im
    Haus des Zauberers gelernt hatte, konnte er sein lassen, obwohl er ihre Schönheit und die Macht, die in ihnen lag, erkannte; er konnte sie loslassen, vergessen. Das war nicht seine Sprache.
    Seine Sprache konnte er nur mit ihr sprechen. Und er hatte sie verloren, hatte sie gehen lassen. Das doppelte Herz hat keine wahre Sprache. Von nun an würde er nur die Sprache der Pflicht sprechen: Einnahmen und Ausgaben, Aufwendungen und Einkommen, Gewinn und Verlust.
    Und nichts weiter. Es hatte Täuschungen gegeben, kleine Zaubertricks, Kieselsteine, die sich in Schmetterlinge verwandelten, hölzerne Vögel, die ein oder zwei Minuten lang mit echten Flügeln flogen. Im Grunde aber hatte es nie eine Wahl gegeben. Für ihn existierte nur ein Weg, den er gehen konnte.
     
    Golden war über die Maßen glücklich und war sich dessen doch kaum bewusst. »Der alte Herr hat sein Schmuckstück wieder««, sagte der Fuhrknecht zum Förster. »Weich wie frische Butter ist er«.

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