Das Vermächtnis von Erdsee
eine Stufe, die zum Wasser hinunter führte, und dachte an Schattenrose. Wann immer er aus dem Haus und fern von Meister Hemlock war, begann er an Schattenrose zu denken und hörte nicht auf, an sie zu denken, und dachte an kaum etwas anderes. Das überraschte ihn ein wenig. Er meinte, er müsse Heimweh haben und an seine Mutter denken. Er dachte recht oft an seine Mutter und hatte oft Heimweh, wenn er in dem kahlen, engen Raum in dem schmalen Bett lag, nach einem dürftigen Essen mit kaltem Erbsenpüree - denn zumindest dieser Zauberer lebte nicht in dem Luxus, den Golden sich ausgemalt hatte.
Nachts dachte Diamant nie an Schattenrose. Da dachte er an seine Mutter oder an sonnige Räume und warmes Essen, oder eine Melodie kam ihm in den Sinn und er probierte sie im Geist auf der Harfe aus; so glitt er in den Schlaf. Schattenrose kam ihm nur in den Sinn, wenn er unten am Hafen war und aufs Wasser starrte, auf die Kais, die Fischerboote, nur wenn er im Freien war und fern von Hemlock und seinem Haus.
So waren ihm seine freien Stunden lieb, als ob es wirkliche Treffen mit Schattenrose wären. Er hatte sie immer geliebt, doch hatte er nicht begriffen, dass er sie über alles und über jeden liebte. Wenn er bei ihr war, selbst wenn er unten bei den Docks war und an sie dachte, war er lebendig. In Meister Hemlocks Haus und in seiner Gegenwart fühlte er sich nie völlig lebendig. Da fühlte er sich stets ein bisschen tot. Nicht wirklich tot, aber ein bisschen tot.
Manches Mal, wenn er auf der Stufe saß, die zum Wasser hinunter führte, das schmutzige Wasser über die Stufe darunter schwappte und die Schreie von Möwen und Hafenarbeitern durch die Luft schwirrten, dann schloss er die Augen und sah sie so deutlich vor sich, dass er die Hand ausstreckte, um sie zu berühren. Wenn er die Hand nur im Geist ausstreckte, wie wenn er im Geist die Harfe spielte, dann berührte er sie tatsächlich. Er spürte ihre Hand in der seinen, und ihre Wange, kühl-warm und seidig-rau lag sie an seinem Mund. Im Geist sprach er zu ihr, und im Geist antwortete sie, ihre Stimme, ihre raue Stimme sagte seinen Namen: »Diamant...«
Doch wenn er durch die Straßen vom Südhafen wieder hinauf ging, verlor er sie. Er schwor sich, sie bei sich zu behalten, an sie zu denken, diese Nacht an sie zu denken, doch sie entschwand. Sobald er die Tür zu Meister Hemlocks Haus öffnete, sagte er wieder Namenlisten auf und fragte sich, was es zum Abendessen geben werde, da er meistens hungrig war. Erst wenn er sich wieder eine Stunde frei nehmen konnte und zum Hafen hinunter lief, vermochte er erneut an sie zu denken.
So entstand in ihm das Gefühl, dass diese Stunden wirkliche Begegnungen mit ihr waren, und er lebte für sie. Ohne zu wissen, wofür er lebte, bis er wieder das Kopfsteinpflaster unter den Füßen hatte und seine Augen auf dem Hafen und auf der fernen Linie des Meereshorizonts ruhten. Dann erinnerte er sich, an was sich zu erinnern lohnte.
Der Winter verging und ebenso ein kalter Vorfrühling, und mit dem warmen Spätfrühling kam, überbracht von einem Fuhrknecht, ein Brief seiner Mutter. Diamant las ihn, nahm ihn mit zu Meister Hemlock und sagte: »Meine Mutter fragt, ob ich diesen Sommer einen Monat zu Hause verbringen kann.«
»Vermutlich nicht«, sprach der Zauberer, und dann, als bemerkte er erst jetzt, dass Diamant anwesend war, legte er die Feder aus der Hand und sagte: »Junger Mann, ich muss dich fragen, ob du bei mir weiterlernen willst.«
Diamant hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte. Auf die Idee, dass dies seine eigene Entscheidung sein könnte, war er noch nicht gekommen. »Meint Ihr, ich sollte es tun?«, fragte er schließlich.
»Vermutlich nicht«, sagte der Zauberer.
Diamant hatte gedacht, er würde erleichtert sein und sich wie befreit fühlen, doch er war beschämt und fühlte sich zurückgewiesen.
»Das tut mir Leid«, sagte er immerhin mit so viel Würde, dass Hemlock zu ihm aufblickte.
»Du solltest nach Rok gehen«, meinte der Zauberer.
»Nach Rok?«
Der starre Blick des Jungen mit der heruntergeklappten Kinnlade irritierte Hemlock, obwohl Zauberer von jungen Menschen ihres Schlages eine geradezu anmaßende Vertraulichkeit gewöhnt waren. Bescheidenheit erwarteten sie sich bei ihnen, wenn überhaupt, erst später. »Ich sagte Rok«, erwiderte Hemlock in einem Ton, der besagte, dass er es nicht gewohnt war, sich wiederholen zu müssen. Doch dann, weil er diesen Jungen, diesen nachgiebigen,
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