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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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bat er. »Ich muss nachdenken.«
    »Wohin gehst du?«
    »Zum Wasser hinunter.«
    »Besser, du bleibst hier.«
    »Hier kann ich nicht nachdenken.«
    Hemlock hätte wissen können, was ihn erwartete; doch da er dem Jungen gesagt hatte, er wolle nicht länger sein Meister sein, konnte er ihm guten Gewissens keine Vorschriften machen. »Du hast eine echte Gabe, Essiri«, sagte er und verwendete den Namen, den er ihm bei der Quelle der Amia gegeben hatte, ein Wort, das in der Ursprache Weide bedeutet. »Ich verstehe es nicht ganz. Ich glaube, du verstehst es überhaupt nicht. Gib Acht auf dich! Eine Gabe zu missbrauchen oder sich zu weigern, sie zu nutzen, kann großen Verlust nach sich ziehen und großes Leid verursachen.«
    Diamant nickte, niedergeschlagen, zerknirscht, ohne Auflehnung, unbeirrt.
    »Geh nur«, sagte der Zauberer und er ging.
    Später wusste er, dass er den Jungen nie und nimmer aus dem Haus hätte lassen dürfen. Er hatte Diamants Willenskraft unterschätzt oder die Macht des Zaubers, den das Mädchen um ihn gewirkt hatte. Ihr Gespräch hatte am Morgen stattgefunden. Hemlock kehrte zu dem alten Lied zurück, das er kommentierte; bis Mittag dachte er nicht an seinen Schüler, doch als er schließlich allein zu Abend gegessen hatte, musste er sich eingestehen, dass Diamant fortgelaufen war.
    Hemlock übte nur ungern die niederen Formen der magischen Kunst aus. Er wirkte keinen Findezauber, wie jeder Zauberer es hätte tun können. Noch rief er Diamant in irgendeiner Weise. Er war verärgert; vielleicht war er gekränkt. Er hatte eine gute Meinung von dem Jungen gehabt und ihm angeboten, dem Meister des Gebietens von ihm zu schreiben, doch dann war Diamant bei der ersten Charakterprüfung zerbrochen. »Wie Glas«, murrte der Zauberer. Wenigstens bewies seine Schwäche, dass er nicht gefährlich war. Manche Talente ließ man besser nicht frei herumlaufen, aber in diesem Kerl steckte nichts Böses, keine böse Absicht. Kein Ehrgeiz. »Kein Rückgrat«, sagte Hemlock in der Stille seines Hauses. »Lass ihn nach Hause kriechen zu seiner Mutter.«
    Doch wurmte es ihn, dass Diamant ihn einfach so hatte fallen lassen, ohne ein Wort des Dankes oder der Entschuldigung. So viel zu den guten Manieren, dachte er.
     
    Als sie die Lampe ausblies und ins Bett schlüpfte, hörte die Tochter der Hexe eine Eule rufen, das kleine, leise Huhu Uh-Uuh, weswegen die Leute sie auch Lacheule nannten. Sie hörte es mit bekümmertem Herzen. In Sommernächten war das ihr Zeichen gewesen, wenn sie hinausschlichen, um sich in der Weidenlaube zu treffen, unten am Ufer der Amia, wenn alle anderen schliefen. Nachts würde sie nicht an ihn denken. Den vergangenen Winter hindurch hatte sie Nacht für Nacht nach ihm gesandt. Sie hatte den Sendezauber ihrer Mutter erlernt und wusste, dass es ein echter Zauber war. Sie hatte ihm ihre Liebkosungen geschickt, ihre Stimme, die seinen Namen rief, wieder und immer wieder. Sie war auf eine Wand aus Luft und Schweigen getroffen. Nichts hatte sie berührt. Er hörte sie nicht.
    Ein-oder zweimal, tagsüber, ganz plötzlich, hatte es Augenblicke gegeben, da hatte sie ihn nahe bei sich gefühlt und ihn berühren können, wenn sie die Hand ausstreckte. Doch nachts hatte sie nichts als Abwesenheit, Ablehnung und Zurückweisung verspürt. Schon vor Monaten hatte sie aufgehört, ihn erreichen zu wollen, doch es tat ihr noch immer im Herzen weh.
    »Uh-Uuh-Uh«, rief die Eule unter ihrem Fenster und dann rief sie: »Schattenrose!« Aus ihrem Elend herausgerissen, sprang sie aus ihrem Bett und klappte die Fensterläden auf.
    »Komm heraus«, flüsterte Diamant, ein Schatten im Licht der Sterne.
    »Mutter ist nicht zu Hause. Komm du herein!« Sie empfing ihn an der Tür.
    Lang hielten sie sich eng umschlungen, fest und still. Für Diamant war es, als hielte er seine Zukunft, sein Leben, sein ganzes Leben in den Armen.
    Schließlich bewegte sie sich, küsste ihn auf die Wange und flüsterte: »Ich habe dich vermisst, ich habe dich vermisst, ich habe dich so vermisst. Wie lang kannst du bleiben?«
    »So lange ich will.«
    Sie nahm seine Hand und führte ihn ins Haus. Es widerstrebte ihm immer ein wenig, das Hexenhaus zu betreten, wo es stark roch und große Unordnung herrschte, alles war durchdrungen von den Geheimnissen der Frauen und Hexen, ganz anders als sein eigenes sauberes und bequemes Zuhause oder die kalte Strenge im Haus des Zauberers. Er schüttelte sich wie ein Pferd, als er da stand, zu groß für

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