Das Vermächtnis von Erdsee
verwöhnten, verträumten Jungen mit seiner klaglosen Geduld lieb gewonnen hatte, empfand er Mitleid mit ihm und fuhr fort: »Du solltest entweder nach Rok gehen oder einen Zauberer finden, der dir beibringt, was du brauchst. Natürlich brauchst du, was ich dir beibringen kann. Du brauchst die Namen. Die Namen sind der Anfang und das Ende der Kunst. Aber sie sind nicht deine wahre Begabung. Du hast ein schlechtes Namensgedächtnis. Du musst es fleißig trainieren. Wie auch immer, es ist klar, dass du Fähigkeiten hast und dass sie geschult werden müssen und es Disziplin braucht, die ein anderer dir besser vermitteln kann als ich.« So bringt Bescheidenheit zuweilen Bescheidenheit hervor, selbst dort, wo man es nicht vermuten würde. »Solltest du nach Rok gehen, würde ich dir einen Brief mitgeben, in dem ich dich dem Meister des Gebietens besonders empfehle.«
»Ah«, sagte Diamant erschüttert. Das Gebieten ist vielleicht die geheimnisvollste und gefährlichste unter den magischen Künsten.
»Möglich, dass ich Unrecht habe«, sagte Hemlock mit seiner trockenen, flachen Stimme. »Deine Begabung könnte das Gebieten sein. Vielleicht ist es aber auch eine gewöhnlichere Begabung fürs Formen und Verwandeln. Ich bin mir nicht sicher.«
»Aber Ihr seid... ich mache jetzt...«
»O ja. Du brauchst ungewöhnlich lang, junger Mann, deine Fähigkeiten zu erkennen.« Das war unwirsch dahergesagt und Diamant zuckte leicht zusammen.
»Ich dachte, meine Begabung sei die Musik«, entgegnete er.
Hemlock wischte den Einwand mit einer fahrigen Handbewegung beiseite. »Ich spreche von der Wahren Kunst«, sagte er. »Ich will aufrichtig zu dir sein. Ich rate dir, an deine Eltern zu schreiben - ich werde ihnen auch schreiben - und sie über deine Entscheidung, auf die
Schule in Rok zu gehen, zu unterrichten, falls du das für dich beschließt; oder nach Großhafen, wenn der Mager Restive dich nehmen will, was ich vermute, mit meiner Empfehlung. Doch von einem Besuch zu Hause rate ich dir ab. Die gefühlsmäßigen Verstrickungen mit der Familie, mit Freunden und so weiter sind genau das, wovon du frei sein musst. Jetzt und in Zukunft.«
»Haben Zauberer keine Familie?«
Hemlock war froh, etwas Feuer in den Augen des Jungen zu entdecken. »Sie sind füreinander wie eine Familie«, sagte er.
»Und keine Freunde?«
»Sie können Freunde sein. Habe ich je gesagt, dass es ein einfaches Leben ist?« Schweigen. Hemlock sah Diamant offen an. »Da war ein Mädchen«, meinte er.
Diamant erwiderte seinen Blick einen Moment lang, dann schlug er die Augen nieder und sagte nichts.
»Dein Vater hat es mir erzählt. Die Tochter einer Hexe, eine Kinderfreundschaft. Er glaubte, dass du ihr Zaubertricks beigebracht hast.«
»Sie hat sie mir beigebracht.«
Hemlock nickte. »Das ist völlig verständlich, unter Kindern. Und ziemlich unmöglich jetzt. Begreifst du das?«
»Nein«, sagte Diamant.
»Setz dich hin«, forderte Hemlock ihn auf. Nach einem Augenblick des Zögerns rückte Diamant den steifen Stuhl mit der hohen Rückenlehne zurecht.
»Hier kann ich dich schützen und habe es getan. Auf Rok bist du natürlich vollkommen sicher. Sogar die Wände dort...
Aber wenn du nach Hause gehst, musst du entschlossen sein, dich selbst zu schützen. Das ist eine schwierige Sache für einen jungen Mann, sehr schwierig... eine Herausforderung für einen Willen, der noch nicht gestählt ist, einen Geist, der sein wahres Ziel noch nicht erkannt hat. Ich rate dir dringend, dieses Wagnis nicht einzugehen. Schreib deinen Eltern und geh nach Großhafen oder nach Rok. Dein halbes Lehrgeld, das ich dir zurückgeben kann, wird für deine ersten Ausgaben reichen.«
Diamant saß aufrecht und still. Er hatte nun fast die Größe und Statur seines Vaters erreicht und sah wie ein richtiger Mann aus, wenn auch ein junger.
»Was meintet Ihr, Meister Hemlock, als Ihr sagtet, Ihr hätte mich hier geschützt?«
»Einfach so, wie ich mich selbst schütze«, antwortete der Zauberer. Und nach einem Augenblick wörtlich: »Der Tausch, Junge. Die Macht, die wir für unsere Macht geben. Der geringere Seinszustand, auf den wir verzichten. Du weißt sicherlich, dass jeder echte Mann der Macht in Keuschheit lebt.«
Eine Pause entstand. Schließlich hob Diamant an: »So habt Ihr dafür gesorgt... dass ich...«
»Sicher. Als dein Lehrer hatte ich dafür die Verantwortung.«
Diamant nickte. Er sagte: »Danke.« Gleichzeitig stand er auf. »Entschuldigt mich, Meister«,
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