Das verplante Paradies
salzverkrusteten Scheibe sichtbar wurde. Als er an die Theke trat, stand sein eisgekühltes Bier schon vor ihm.
„Ich erinnere mich …“ begann er. Der Barkeeper wandte sich ab, um ein paar Gläser zu polieren, die bereits blank waren. Es kümmerte ihn nicht sonderlich, ob Charlie seine Unhöflichkeit bemerkte.
„Ich erinnere mich“, wiederholte Charlie mehr zu sich selbst, „an Zeiten, wo die Küste noch richtig einsam war. Ich meine – nicht bloß zeitweise verlassen. Ich meine, damals gab es überhaupt niemanden hier.“
In all seiner Verlassenheit sehnte er sich idiotischerweise nach dieser Einsamkeit.
„Es geht Ihnen doch gut“, sagte der Barkeeper vom anderen Ende der Bar her. „Sie haben sich angepaßt. Sie haben das Beste daraus gemacht.“
„Bah!“ Charlie kühlte seine Hände an seinem Glas. „Man paßt sich nicht an. Man versucht das Beste daraus zu machen, natürlich. Aber das heißt noch lange nicht, daß man es mag.“
„Ich habe nicht den Eindruck, daß Sie leiden.“
Der Barkeeper hatte wenig Verständnis für diesen trübsinnigen Mann, der mit dämlichen Formulakrawatten, Runyonanzügen und Geld in die Bar kam, das schnell verdient und ebenso schnell wieder ausgegeben war. Die Buchmacher hatten immer ihren Schnitt, egal, ob sie Pferdewetten oder Wetten auf Gleichungen annahmen. Die Barkeeper waren die armen Hunde, die sich mit der Vergangenheit herumschlagen mußten, – ihrer eigenen und der aller anderen.
„Bah!“ Charlie zuckte noch einmal mit den Schul tern und beschloß, sein Bier auszutrinken und zu gehen. Dann bemerkte er seitwärts aus dem Augenwinkel eine Bewegung.
Das Mädchen saß in einer entfernteren Ecke des Raumes und trank – nicht gerade saisongemäß – einen heißen Apfelsaft. Sie beobachtete ihn aufmerksam und schlug auch nicht die Augen nieder, als er ihren Blick erwiderte.
Sie war jung, aber sie war keine Urlauberin. Ihr Kleid mochte vor einer Woche oder einem Monat noch modisch gewesen sein, aber jetzt war es beschmutzt mit nassem Sand, und das Mädchen trug eine Aura zögernder Ausdauer um sich, eine herbstliche Traurigkeit, die im Glutofen des kalifornischen Sommers bezaubernd wirkte.
Einem plötzlichen Einfall folgend schob Charlie sein Glas über die Theke, damit ihm nachgeschenkt würde, bezahlte und trug das Bier an den Tisch des Mädchens hinüber.
„Sie sehen so aus, als ob es Ihnen bis oben stünde.“ Er wartete auf eine Antwort.
Und doch enthielt dieses Warten keine Dringlichkeit. Das körperliche Zeitgefühl – diese Nervenspannung, das Zusammenziehen der Bauchmuskeln – hatte sich irgendwo zwischen dem mittäglichen Dunst und dem ewigen Einerlei des Meeres verflüchtigt. Das Mädchen konnte sich Zeit nehmen mit der Antwort. Was bedeutete Zeit? Und als er die Frage zu kompliziert fand, wendete sich Charlie einer Betrachtung der Motive zu, die ihn zu dem Mädchen geführt hatten.
„Sie sehen so aus, als ob es Ihnen bis hier stünde.“ Er sagte es noch einmal, mit sorgfältiger Betonung. Es war kein Annäherungsversuch, sagte er zu sich selbst, und er wollte auch nicht diesen Eindruck vermitteln. Aber es war auch mehr als einfache Neugier.
Charlie vermutete – nein, erhoffte sich – Übereinstimmung, und dies war seine Methode, sie herauszuspüren. Er überprüfte seine Zweifel, wobei er sich bewußt war, daß ihm sein Unterbewußtsein einen üblen Streich spielen mochte.
Wenn ich noch nicht einmal meine eigene Seele kenne, dachte er, wozu …?
„Bis oben ist das richtige Wort“, sagte das Mädchen. Dann schwieg sie wieder. Charlie ließ ihre Stimme innerlich noch einmal ablaufen. Sie enthielt keine Musik. Sie war gleichgültig und hoffnungslos.
„Wollen Sie es mir erzählen?“ Er biß sich auf die Lippe. Die ganze Szene sieht wie ein Komplott aus, um meine großartigen wattierten Schultern an ihr gesenktes Köpfchen zu lehnen, dachte er kalt. Und dann?
„Reden ist die schlimmste Falle“, sagte sie. „Man sagt gewöhnliche Worte in ungewohnter Umgebung. Aber sie bedeuten nicht dasselbe. Sie klingen nicht einmal genauso … Ich würde vermuten, sie sind ein einsamer Mensch.“
Charlie schwenkte das Bier in seinem Glas herum. Sollte sie nur die Fragen stellen.
„Sie würden richtig vermuten“, sagte er.
Das Meer spülte leicht über den Sand unter ihnen, und das schlürfende Geräusch drang durch den Bretterboden. In dieser zähen Stunde an der Küste schien es wie der einzige Ton auf der Welt; ein Ton, dessen
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