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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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untersuchen ich Euch gebeten habe?« Amalrics Miene verriet keine Regung. Seiner bebenden Stimme jedoch war die Anspannung deutlich anzumerken.
    Cuthbert biss sich auf die Lippen und ertappte sich dabei, dass er sich in eine andere Zeit und an einen anderen Ort wünschte. Der Mann, der dort vor ihm thronte, war ganz offenkundig nicht mehr der Jüngling, den er einst in Jaffa unterrichtet hatte. Dennoch schien irgendwo unter den feisten, von Trauer und Sorge gezeichneten Zügen noch etwas von eben diesem Jungen zu stecken, den Cuthbert seiner Aufgewecktheit und seines Scharfsinns wegen mehr geschätzt hatte als jeden anderen Schüler.
    »Das habe ich, mein König.«
    »So sagt mir, zu welchem Ergebnis Ihr gekommen seid.«
    Cuthbert holte tief Luft. Es war sinnlos. Der Moment ließ sich hinauszögern, vermeiden ließ er sich nicht.
    »Ich habe die lateinische Abschrift, die Ihr mir zu lesen gabt, übersetzt«, begann er seinen Bericht. »Dabei habe ich jedes einzelne Wort und jede Bedeutung, die es in unserer Sprache haben mag, genau bedacht und abgewogen. Das Ergebnis meiner Bemühungen wird Euch jedoch nicht gefallen, mein König – denn ich fürchte, dass jenes Schriftstück Euch nicht helfen wird.«
    »Was?«
    In einer Zorneswallung sprang Amalric auf die Beine, seiner Leibesfülle ungeachtet. »Was redet Ihr da? Der Brief, dessen Abschrift ich Euch zu lesen gab, ist über jeden Zweifel erhaben! Er stammt aus dem Besitz des Kaisers von Byzanz und wurde mir anvertraut, als ich im vorletzten Jahr dort weilte!«
    »Daran zweifle ich nicht, mein König.« Cuthbert schüttelte das demütig gesenkte Haupt.
    »Nur wenigen ist das Privileg zuteil geworden, diesen Brief zu lesen, unter ihnen der Kaiser, seine Heiligkeit der Papst sowie der König von Frankreich – und Ihr zweifelt an seiner Echtheit?«
    »Das tue ich in keiner Weise, mein König«, versicherte Cuthbert weiter kopfschüttelnd. »Aber ich sehe keine Möglichkeit, aufgrund der darin enthaltenen Informationen jenen Ort zu finden, von dem dort die Rede ist.«
    »Wie könnt Ihr so etwas sagen? Noch dazu mit derartiger Endgültigkeit?« Amalrics weit aufgerissene Augen schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen. »Wisst Ihr nicht, was auf dem Spiel steht? Habe ich es Euch nicht eindringlich genug erklärt?«
    »Das habt Ihr, mein König. Ich fürchte nur …«
    »Ihr fürchtet?«, herrschte Amalric ihn an. »Ich werde Euch sagen, was Ihr zu befürchten habt, Bruder Cuthbert! Damietta ist ein Fehlschlag gewesen! Der Kampf um Ägypten ist verloren, und man braucht kein Hellseher zu sein, um zu wissen, was die Zukunft bringen wird. Dunkle Wolken ballen sich am Horizont. Ein Sturm zieht auf, der einen Namen trägt: Salah al-Din! Der Wesir von Ägypten gewinnt täglich an Macht! Früher oder später wird er kommen, um sich Jerusalem zu nehmen und sich für das zu rächen, was seinen Leuten angetan wurde, als wir die Stadt eroberten. Noch bin ich stark genug, um mein Königreich zu behaupten – aber wie lange noch? Und was wird geschehen, wenn ich diese Welt verlassen habe? Wer wird mir auf den Thron von Jerusalem folgen? Meine halbwüchsige Tochter? Oder mein männlicher Erbe, der vom Aussatz befallen ist?«
    Cuthbert senkte den Blick.
    Dass Amalrics Sohn Baldwin seit seiner frühen Kindheit an Lepra litt, war eine bedauerliche Tatsache. Der Junge hatte den Scharfsinn und die Tatkraft seines Vaters geerbt, aber vermutlich würde er nicht alt genug werden, um die Krone von Jerusalem auf seinem Haupt zu tragen.
    »All jene, die mir jetzt noch die Füße küssen, werden wie Hyänen über den Jungen herfallen«, fuhr Amalric düster und mit heiserer Stimme fort, »und Jerusalem wird schwach und schutzlos sein, den Sarazenen hilflos ausgeliefert. Die Fürsten werden keinen Aussätzigen auf dem Thron des Reiches respektieren, und Baldwin wird nicht stark genug sein, um seine Macht zu behaupten. Der Junge muss genesen – und mit ihm auch mein Königreich!«
    »Ihr wollt ein Wunder, mein König«, entgegnete Cuthbert, »und Wunder vermag allein der Allmächtige zu wirken.«
    »Was Ihr nicht sagt – es sieht aber nicht so aus, als wollte er ein Wunder an mir und meiner Familie wirken! Stattdessen heißt es, Gott hätte sich von uns abgewandt. Wisst Ihr nicht, was in den Straßen gemunkelt wird? Es heißt, dass ich allein die Verantwortung für die Niederlage in Ägypten trüge! Dass ich unsere heilige Sache vor den Mauern Damiettas verraten hätte! Dass ich mich von den

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