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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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wurde.
    »Mutter, nein! Bitte nicht!«
    Das Letzte, was sie hörte, ehe der Abgrund der Ohnmacht sie verschlang, waren Rowans Schreie, während die Reiter ihre Pferde wendeten und davonritten.
    Dann kam die Dunkelheit.



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1
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    »Zwischen dem Sandmeere und den erwähnten Bergen findet sich in einer gewissen Ebene ein Quell von seltener Heilkraft; die Christen und welche es werden wollen, befreit er […] von allen sie quälenden Gebrechen.«
    Brief des Johannes Presbyter, 142 – 145
    Nordfrankreich
November 1173
    Sie kamen im Morgengrauen.
    Und sie waren zu dritt.
    Drei schemenhafte Gestalten, die im ersten Tageslicht die schäbige Straße herabkamen, in weite Umhänge gehüllt, die sie riesigen Schwingen gleich umwehten. Lautlos glitten ihre Schatten über die steinigen Äcker, deren Furchen schwärenden Wunden glichen, erstarrt in Reif und Frost. Nur hier und dort erhoben sich die knorrigen Stämme entlaubter Bäume aus der Ödnis, knochigen Klauen gleich, die nach den drei Reitern zu greifen schienen.
    Nicht mehr lange, und es würde schneien. Der Winter kündigte sich an, in dunklen Wolken, die sich einer feindlichen Heerschar gleich am stahlfarbenen Himmel ballten und zum Angriff sammelten.
    Bald schon, sehr bald …
    Kathan hasste den Winter. Beinahe ebenso sehr, wie er die Heiden hasste. Und das nicht nur, weil er die Kälte und Feuchte nicht mehr gewohnt war und sie in seinen Knochen schmerzten. Sondern auch, weil der Winter Erinnerungen wachrief. Erinnerungen an ein anderes, ein früheres Leben, das er hinter sich gelassen hatte.
    Vor langer Zeit.
    Wäre es nach ihm gegangen, wäre er niemals in dieses karge, von Kälte und Nebel zerfressene Land zurückgekehrt. Doch die Dinge hatten sich anders entwickelt.
    Der harte Hufschlag auf dem gefrorenen Boden ging in ein dumpfes Trampeln über, als die Reiter ihre Tiere auf einer Hügelkuppe zügelten. Unterhalb davon folgte die Straße, die wenig mehr als ein schmales graues Band aus erstarrtem Morast war, einem Flusslauf. Jenseits des Flusses stiegen hinter den Hügeln dünne Rauchsäulen empor.
    »Bist du sicher, dass das der richtige Weg ist, Mercadier?« Gaumardas beugte sich fragend in seinem Sattel vor. Genau wie seine beiden Gefährten trug auch er eine wollene Haube unter dem coif aus Kettengeflecht, um das Haupt vor Kälte zu schützen; als Einziger der drei hatte er jedoch die Kinnbrünne nicht hochgeschlagen, sodass das entstellte Gesicht mit den beiden Mündern zu sehen war. »Es kommt mir vor, als wären wir hier schon einmal gewesen.«
    »Das liegt daran, dass in dieser gottverlassenen Gegend ein Hügel aussieht wie der andere«, entgegnete der Angesprochene und zog den Umhang enger um seine Schultern. Seine Stimme klang dumpf durch die geschlossene Kinnklappe. »Hier gibt es nur Kälte, Stein und Elend.«
    »Und das sagst ausgerechnet du?« Gaumardas’ Augen blitzten. »Wurdest du nicht in dieser Gegend geboren?«
    Mercadier lachte bitter auf. »Daran siehst du, dass ich weiß, wovon ich spreche.«
    Gaumardas lachte, hechelnd wie ein Hund. »Und was sagt unser stolzer Bretone dazu?«, wollte er dann wissen.
    Kathan blieb eine Antwort schuldig. Er hatte sich an die überflüssigen Wortwechsel seiner beiden Mitbrüder gewöhnt, verspürte allerdings kein Verlangen, sich daran zu beteiligen, und hörte schon gar nicht mehr richtig zu.
    »Warum so wortkarg?«, hakte Gaumardas nach. »Weilst du mit deinen Gedanken wieder in der Vergangenheit?«
    Kathan wandte den Blick und schaute seinen Mitbruder durchdringend an. »Schweig«, sagte er nur.
    »Warum sollte ich? Wir alle sind dabei gewesen, und wir haben nicht weniger geblutet als du.«
    »Schweig, sage ich.« Die Art und Weise, wie Kathan sprach, machte seinem Mitbruder klar, dass es besser war, sich zu fügen. Das Grinsen, das Gaumardas’ Mund und die darunter liegende, quer über das Kinn verlaufende Narbe verzerrt hatte, verschwand augenblicklich.
    »Die Siedlung dort hinter den Hügeln heißt Bouvais«, wechselte Mercadier das Thema. Sein Ross schnaubte und scharrte mit den Hufen, Dampf wölkte aus den Nüstern. »Vielleicht bekommen wir dort den Hinweis, nach dem wir suchen.«
    »Hoffentlich«, knurrte Gaumardas verdrießlich. »Ich bin es leid, von einem traurigen Kaff zum nächsten zu reiten und immer dieselben Fragen zu stellen. Wie lange soll das noch so weitergehen?«
    »Bis wir die richtigen Antworten erhalten«, entgegnete Kathan schlicht und trieb sein Pferd den Hügel

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