Das verschollene Reich
Bruder Cuthbert.
Rowan nickte. »Ja, Meister.«
»Bist du sicher?«
»Durchaus.« Rowan nickte abermals. »Wohin werden wir nun gehen?«
»Vermutlich nach Tyros, solange es sich noch in christlicher Hand befindet. Und danach …«
Cuthbert unterbrach sich, als er sah, dass sein Diener noch immer in die Richtung starrte, in der Cassandra zwischen den Bäumen verschwunden war.
»So viele Fragen hast du mir gestellt und meine Geduld manch harter Prüfung unterzogen«, sagte er seufzend und tätschelte seinem Esel sanft den Hals, »diese eine jedoch nie, also werde ich dir von selbst die Antwort darauf geben: Manche Menschen trachten ihr Leben lang danach, vor den Augen des Herrn und der Welt Vergebung zu finden, ohne sie je zu erlangen. Du hingegen hast sie gefunden, Sohn, denn du hast mehrfach dein Leben eingesetzt, um andere zu retten. Ein größeres Opfer gibt es nicht. Du hast der Gefahr mutig ins Auge geblickt und allen Ehre gemacht, zuvorderst dem Allmächtigen im Himmel, aber auch deiner Mutter, die in der Ewigkeit von Stolz und Glück erfüllt sein muss über einen solchen Sohn. Und auch mir«, fügte er leiser hinzu. »Hör jetzt gut zu, denn ich spreche nicht als dein Meister zu dir, sondern als dein Bruder, als dein Freund. Der Herr schätzt die Hingabe seiner Diener, Rowan, aber mehr als alles andere schätzt er Wahrhaftigkeit. Was du tust, sollst du mit ganzer Kraft und vollem Einsatz tun, und wenn du dich für ein Leben für den Herrn entscheidest, dann soll diese Entscheidung mit frohem Sinn und in inniger Liebe zum Allmächtigen erfolgen.« Erneut wandte er sich ab und streichelte seinem Esel den Hals. »Wenn dein Herz dir jedoch einen anderen Weg weist, so …«
Bruder Cuthbert unterbrach sich, als er das leise Getrappel hörte.
Er blickte auf und sah, wie Rowan seinen Esel über den Felsenpfad lenkte, Cassandra hinterher.
Und er faltete die Hände und dankte dem Herrn.
NACHWORT
Es kommt nicht oft vor, dass man einen Stoff entdeckt und sofort weiß, dass man einen Roman daraus machen möchte; mehr noch, dass sich die Epoche, in der man die Geschichte erzählen möchte, fast wie von selbst auswählt, ebenso wie die Handlung mit ihren abenteuerlichen, dramatischen und romantischen Verstrickungen. Als ich den sagenumwobenen Brief des Priesterkönigs Johannes zum ersten Mal las, war mir fast augenblicklich klar, dass ich dieses im Grunde bis heute ungeklärte Rätsel des Mittelalters zum Gegenstand eines Romans machen wollte. Die Tatsache, dass bis ins 15. Jahrhundert hinein Weltkarten gezeichnet wurden, in denen jenes ominöse Reich als feste geographische Größe verzeichnet war, ohne dass jemand von sich behaupten konnte, jemals dort gewesen zu sein, faszinierte mich nicht weniger als die verschiedenen Erklärungen, die die Geschichtswissenschaft bis zum heutigen Tag dafür hervorgebracht hat.
Solche Rätsel der Vergangenheit sind eine Steilvorlage für gute Geschichten, weil sie einerseits spannende Fakten liefern, andererseits aber auch Raum für Spekulationen lassen – und genau da sollte ein historischer Roman meiner Ansicht nach angesiedelt sein. Dass die christlichen Herrscher in den Krisenjahren des späten 12. Jahrhunderts sehnsüchtig gen Osten blickten in der Hoffnung, dort womöglich einen mächtigen Verbündeten zu finden, ist historisch verbürgt; selbst Marco Polo hielt, als er zu seiner berühmten Reise aufbrach, Ausschau nach dem Reich des Presbyters, freilich ohne es je zu finden. Zu abenteuerlich, zu blühend waren die Schilderungen, die in jenem Brief gemacht wurden, als dass die Wirklichkeit ihnen standgehalten hätte – in einer Zeit jedoch, in der es weder schnelle Verkehrswege gab noch ein weltweites Kommunikationssystem, müssen jene Beschreibungen von exotischen Landschaften, absonderlichen Kreaturen und wundertätigen Orten den Menschen wie eine ferne Verheißung erschienen sein, vergleichbar wohl nur mit der unstillbaren Neugier, mit der man heute nach erdähnlichen Planeten und außerirdischem Leben Ausschau hält.
Insofern glaube ich, dass DAS VERSCHOLLENE REICH eine Geschichte von großer Aktualität erzählt. Nicht nur, weil jener Konflikt, den wir im Hintergrund erleben und der im Grunde den Anstoß zu Bruder Cuthberts Suche gibt, bis in unsere Zeit hinein schwelt; sondern auch, weil sich an der Sehnsucht des Menschen nach Rettung, nach einer neuen und besseren Welt bis heute nichts geändert hat. Diesen Traum von einem fernen Utopia teilen wir mit den
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