Das verschollene Reich
der Berater, mit denen sich der König umgab, herausgehoben worden zu sein, war längst verblasst. Nun schwand auch noch der letzte Rest geschmeichelter Eitelkeit. Ernüchtert kam er zu der Erkenntnis, dass für seinen einstigen Schüler Amalric vor allem eines zählte.
Amalric.
Er holte tief Luft und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht, wohl bewusst, dass es seine letzten sein mochten. »Mein König«, begann er leise, aber mit fester Stimme, »in all den Jahren, da ich die Ehre hatte, Euch zu unterrichten, seid Ihr mir immer mehr gewesen als nur ein Schüler. Ich habe Euch geliebt wie einen meiner Mitbrüder, und wenn es etwas gäbe, das ich tun könnte, um Euch zu helfen oder Eure Drangsal zu lindern, so würde ich es ohne Zögern tun. Aber ich kann es nicht.«
»Ist das Euer letztes Wort?«
Cuthbert beugte das Haupt. »Ich fürchte, so ist es.«
»Dann geht!«, herrschte Amalric ihn von seinem hohen Sitz herab an. »Verlasst meinen Palast und kehrt niemals wieder zurück! Niemals wieder, solange ich lebe, habt Ihr verstanden?«
»Mein König, ich …«
»Habt Ihr mich nicht verstanden? Ihr sollt gehen!«
Cuthbert war klar, dass jeder Widerspruch oder jeder weitere Erklärungsversuch nicht nur zwecklos gewesen wären, sondern womöglich tödlich. Dem Herrscher des Landes seine Hilfe zu verweigern, warum auch immer, konnte als Hochverrat ausgelegt werden – der Grund, warum Amalric es jetzt nicht tat, hing vermutlich mit jenem halbwüchsigen Jungen zusammen, der noch immer irgendwo unter der aufgedunsenen, fleischigen Hülle steckte.
Cuthbert verbeugte sich tief und demütig und verließ dann die Kammer. Auf der Schwelle blickte er sich ein letztes Mal um, sah den König jenseits der Schleier auf seinen Kissen thronen.
Geschlagen.
Allein.
Jetzt erst merkte der Mönch, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er verspürte das Bedürfnis, den Palast sofort zu verlassen, doch als er sich umwandte, versperrte ihm jemand den Weg.
Es war nur eine schmächtige Gestalt, die ihm kaum bis zu den Hüften reichte, Cuthbert fuhr dennoch erschrocken zusammen. »Prinzessin Sibylla! Verzeiht, ich … ich habe Euch nicht gesehen!«
Amalrics Tochter erwiderte nichts. Es war nicht zu erkennen, ob sie wusste, was hier vor sich ging. Der Blick ihrer blauen Augen jedoch durchbohrte Cuthbert wie die Spitze eines Speeres – und er schien sagen zu wollen, dass die Angelegenheit noch nicht beendet war.
Irgendwann würden sie einander wiederbegegnen, und er würde sich rechtfertigen müssen.
Eines fernen Tages.
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2
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»Bei uns lügt keiner und kann keiner lügen; denn hat jemand wissentlich eine Lüge ausgesprochen, so stirbt er zur Stund.«
Brief des Johannes Presbyter, 199 – 201
Ascalon, Königreich Jerusalem
Januar 1187
14 Jahre später
»Nein! Mutter! Bitte nicht!«
Mit einem Aufschrei schoss Rowan in die Höhe und riss die Augen auf. Helles Licht blendete ihn, gegen das sich die verschwommenen Umrisse einer schlanken Gestalt in einem langen Kleid abzeichneten.
»Mutter?«
»Nicht ganz, mein Junge. Aber es freut mich, dass du erwacht bist.«
Für einen Augenblick empfand Rowan nur heillose Verwirrung. Er stellte fest, dass sein Haar und der obere Teil seines Gewandes völlig durchnässt waren, sah den hölzernen Eimer in den Händen seines Gegenübers – und begriff, dass es ein Wasserschwall gewesen war, der ihn so jäh aus seinem Traum gerissen hatte.
Mit dieser Erkenntnis kehrte auch die Erinnerung zurück. Und gleichzeitig das Dröhnen in seinem Schädel, das von
einem wuchtigen Schlag auf den Hinterkopf rührte. Unwillkürlich befühlte er die Stelle, die sich knapp unterhalb der Tonsur befand. Das kurz geschnittene Haar war mit verkrustetem Blut verklebt, aber offenbar hatte sich die Wunde geschlossen.
»Ich muss zugeben, ich hatte dich mir anders vorgestellt. Nach allem, was ich gehört hatte, hatte ich mir einen vierschrötigen Rüpel vorgestellt, mit dem Gesicht eines Kamels und dem Verstand eines Ochsen. Du jedoch scheinst das Gegenteil von alldem zu sein.«
Benommen, wie er noch immer war, verstand Rowan nur jedes zweite Wort und war nicht sicher, ob er soeben gelobt oder gerügt worden war. Er wollte etwas erwidern, brachte jedoch nur ein Krächzen zustande.
»Sachte, mein Sohn«, mahnte ihn der Fremde, der, wie Rowan jetzt erst feststellte, in seiner Muttersprache mit ihm redete. »Du bist noch nicht wieder bei Kräften, solch ein Kampf hinterlässt Spuren. Wie man mir
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