Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)
verbessern – und auf vielen Gebieten hat sie das ja auch getan. In Sachen Fortpflanzung ist jedoch das Gegenteil eingetreten: Frauen benutzen ihre verstärkte Autonomie dazu,auf Söhne hin zu selektieren. Liao Li gibt diesen Widerspruch offen zu. Den eigenen Körper wiederholt einer Spätabtreibung zu unterwerfen, und das, »obwohl man ja selbst eine Frau ist«, bezeichnet sie als »Dummheit«. Und doch spricht sie über das Thema immer nur in der dritten Person, so, als ob das Geschlechterungleichgewicht in Suining von allen möglichen Leuten, nur nicht von ihr verursacht wäre. 15
Einmal begleite ich Liao Li morgens beim Kirchgang. Sie besucht den örtlichen Versammlungssaal der Drei-Selbst-Kirche, der einzigen staatlich anerkannten protestantischen Glaubensgemeinschaft in der Volksrepublik. (Die Mitgliederzahl der Drei-Selbst-Kirche ist parallel zum ökonomischen Wachstum des Landes beträchtlich angestiegen, denn angesichts des ständigen Wandels suchen viele Chinesen nach einem bleibenden Lebenssinn.) Der Versammlungsraum befindet sich in einem alten Lagerhaus an einer der wenigen unbefestigten Straßen, die es in Suining noch gibt – gleich neben einer Plakatwand, die den Bau eines Resorts ankündigt. Wir treffen kurz vor sechs Uhr ein und finden die roten Bankreihen gut besetzt mit Gläubigen vor, die in gerader Sitzhaltung die Augen erwartungsvoll nach vorn gerichtet haben, wo auf einer Estrade ein mit glänzender Goldfolie überzogenes Kreuz aus festem Karton aufgestellt ist. Die anwesenden Gemeindemitglieder sind fast alle weiblichen Geschlechts. Es ist das einzige Mal, dass ich bei meinen verschiedenen Reisen nach Suining so viele Frauen an einem Ort versammelt sehe.
Im dem, was nun folgt, spielt die Hilfspredigerin die Hauptrolle, eine stämmige Frau in den mittleren Jahren, die eine braune Polyesterjacke und auf der Nase eine große Brille mit breitrandiger Fassung trägt. Sie ergreift ein Stück Kreide, geht mit großen Schritten zu einer hinter dem Kreuz angebrachten Tafel hinüber und schreibt die Ziffernfolge 36:10–12 an, die eine Stelle im biblischen Buch Hiob bezeichnet, in dem Hiob mit vier Freunden über den Sinn des Leidens diskutiert. Drei der Freunde interpretieren das Unglück, das einen Menschen trifft, als eine Strafe Gottes. Der vierte, Elihu, spricht dem Leiden eine spezielle Berechtigung zu: Oft wolle Gott durch Unglück die Menschen belehren. Nachdrücklich weist uns die Predigerinauf Elihus Worte hin. Liao Li zieht ein Notizbüchlein aus der Tasche und schreibt sorgfältig die Kapitelnummer und die Versnummern auf.
»Wollt ihr
kleinkarierte
Menschen sein?«, dröhnt die tiefe, grollende Stimmer der Predigerin aus dem Lautsprecher. Kleinkariert, erklärt sie, ist jemand, der zu viel begehrt, der keinen Sinn für das hat, was Elihu die gute Eigenschaft des Leidens nennt, der nicht begreift, was er daraus lernen kann, dass er nicht alles bekommt, was er sich wünscht. Die Predigerin nennt einige Beispiele: eine Frau, die nach oben buckelt und nach unten tritt; eine Frau, die ihre Herkunft verleugnet und die große Dame spielt – und schließlich eine Frau, die anderen vorhält, dass sie Söhne haben müssten. »Müsst
ihr
den Sohn [eures Nachbarn] großziehen?«, dröhnt die Stimme der Predigerin aus dem Lautsprecher. »Müsst
ihr
euch darum kümmern, dass er eine Zukunft hat, wenn er erwachsen wird?«
Es ist nur ein kurzer Moment in einer langen Predigt, aber er bleibt mir noch lange, nachdem ich den Versammlungssaal verlassen habe, im Gedächtnis.
Draußen ist Suining am Erwachen. Bauarbeiter sind unterwegs zum Arbeitsplatz, Kauflustige bevölkern die Ladenzeilen der Stadt, die Gerätschaften fangen an zu surren. Irgendwo bricht ein Wanderarbeiter nach Shanghai auf, um dort noch mehr Geld zu verdienen, das in die Wirtschaft von Suining Stadt einfließen kann. Drinnen in dem karg eingerichteten Versammlungssaal jedoch nehmen sich die Frauen einen Augenblick Zeit zum Nachdenken. Die Predigerin gibt ein Zeichen, und die Kirchenbesucherinnen, jetzt nach hinten gewandt, knien nieder und legen die Stirn auf die Sitzfläche ihrer Bank. Manche rollen sich auf dem Boden zusammen. Dann beginnen sie, unisono laut, aber tränenlos zu wehklagen, in Wellen von lang gezogenen Jammerlauten.
ZWEITER TEIL
Eine großartige Idee
DRITTER TEIL
Die Welt ohne Frauen
Danksagung
Am Anfang war nur eine Idee, ein kleiner Plan für einen Zeitschriftenartikel über die Auswirkungen des
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