Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)
er überließ ihr jetzt jährlich 1000 Yuan (115 Euro) für die Kirchensteuer und darüber hinaus noch etwas Geld für Kleidung. Was möglichen Nachwuchs betraf, dachte er zwar nicht in so gehobenen Begriffen wie Wu Pingzhang, aber durchaus nicht weniger rigoros. Was hat man von materiellem Wohlstand, wenn man keinen Sohn hat, dem man ihn vererben kann?
Die Cousins wichen zwar in mancher Hinsicht voneinander ab. Wu Pingzhang ist rundlich und gesellig, trägt ein breites, schelmisches Lächeln zur Schau und neigt in der Unterhaltung zu trockenem Humor, Wu Bing dagegen ist zierlich gebaut und schüchtern, hat feine Wangenknochen, einen bleistiftdünnen Lippenbart und einen gekrümmten Rücken, der ihn noch kleiner erscheinen lässt, als er ohnedies ist. Wu Pingzhangs Frau, Liu Mei, ist ebenfalls rundlich, was sie ihrer Lust am Kochen zuschreibt. Liao Li, Wu Bings Ehefrau, ist fromm, ernsthaft und vor allem dem Beten zugetan. Aber seit die zwei Cousins in den 1990er Jahren ihre Familien gründeten, sind beider Lebensgeschichten parallel verlaufen.
In der vorhergehenden Generation wurden in Suining Kinder noch nicht geplant: Sie waren sozusagen Zufallsprodukte. Und weil Männer und Frauen jung heirateten, niemals Empfängnisverhütungbetrieben und Arbeitskräfte auf dem Hof und bei der Landarbeit brauchen konnten, kam der Zufall wieder und wieder zum Zug. Wer einen Sohn haben wollte – und das wollten die meisten –, hatte einfach nur Sex und wartete ab, was daraus wurde. Führten der erste und der zweite Anlauf nicht zu einem Sohn, versuchte man es von Neuem, und fast immer wirkte der Zufall im gewünschten Sinn. In jeder beliebigen menschlichen Population haben 88 Prozent der Paare nach drei Geburten mindestens einen Sohn. 2 Mit der sechsten Geburt schnellen die Aussichten auf einen Sohn auf 99 Prozent hoch. [7] Sechs ist genau die Zahl der Kinder, die Wu Pingzhangs Mutter hatte – er selbst war der Jüngste –, und für den gewünschten Sohn hatte sie der Natur nicht ins Handwerk pfuschen müssen. Im Jahr 1980 wurde die Ein-Kind-Politik in China eingeführt und 1982 die Massenproduktion von Ultraschallgeräten aufgenommen. Dass die Geräte so bald nach der Einführung einer Obergrenze für die Geburtenzahlen auf den Plan traten, wurde als ein glücklicher Zufall willkommen geheißen. Eltern gab die Technik das Mittel in die Hand, weniger Kinder zu haben und trotzdem auch gegen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit das angestrebte Ziel zu erreichen. [8] Für lokale Behörden, die sich mit nicht einhaltbaren Obergrenzen für die Geburtenzahlen konfrontiert sahen, eröffnete sich dank Ultraschall die Möglichkeit, dass die Quoten eingehalten wurden, ohne dass sie ihrerseits Mütter eine Zwangsabtreibung auferlegen mussten.
Verglichen mit der Alternative, mehr Kinder als gewollt zu haben, war Geschlechtsselektion auch die billigere Lösung. Vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung ist in China illegal; weil aber lokale Behörden kein dringendes Motiv haben, hartgegen sie vorzugehen, kann ein Umschlag voll Geldscheinen oder eine Stange hoch geschätzter Chunghwa-Zigaretten viel bewirken. Zum Zeitpunkt meines Besuchs in Suining beliefen sich die Bestechungsgelder für die Ultraschalltechniker, die man für einen Test zur vorgeburtlichen Bestimmung des Geschlechts der Leibesfrucht aufwenden musste, angeblich auf 1000 Yuan (115 Euro). Das Bußgeld für ein ohne amtliche Erlaubnis geborenes Kind war zehn Mal so hoch. 3 Die Eltern, mit denen ich sprach, weil sie auf vorgeburtliche Geschlechtswahl zurückgegriffen hatten, zählten bei Weitem nicht zu den Ärmsten im Kreis; überhaupt waren es der Anthropologin Barbara Miller zufolge chinaweit die »von der Wirtschaftsreform profitierenden Schnellchecker und ewigen Ersten an der Futterkrippe«, die als Erste geschlechtsselektiv abtrieben. 4 Aber in einer Zeit, in der alle Welt mehr oder weniger dem Geldwahn verfallen war, machte der mit ihr verbundene Spareffekt die Geschlechtsselektion auch für breitere Schichten attraktiv.
Beim ersten Anlauf hatten die Cousins Wu beide ein Mädchen. Wu Bings Tochter kam 1993 auf die Welt, die Wu Pingzhangs 1998. Wie damals in China durchaus nicht unüblich, entschieden sich beide Ehepaare für ein zweites Kind – Bevölkerungspolitik hin oder her. Und beide ließen erstmals eine Geschlechtsbestimmung per Ultraschall vornehmen.
Beim zweiten Versuch wurde Wu Bings Frau Liao Li mit einem Mädchen schwanger. Sie trieb ab. Die dritte
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