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Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)

Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)

Titel: Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mara Hvistendahl
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Die Lehrerinnen führen ihre kleinen Schützlinge in zwei exakt parallelen Schlangen zu uns her, ein Kinderpaar nach dem anderen: Es ist wie in Ludwig Bemelmans’ Kinderbuch
Madeline
– mit einem einzigen, wesentlichen Unterschied, der für mich schmerzhaft in Erscheinung tritt, als ich jetzt auf eine Stelle im Schulhofinneren gleich hinter dem Gittertor blicke und zu zählen beginne. Junge-Junge, Junge-Mädchen, Junge-Mädchen, Junge-Junge, Junge-Mädchen, Junge-Mädchen: Das Geschlechterverhältnis an der Schule ist 2:1.
    Ich wiederhole diese Übung in Lianyungang, einer Stadtnordöstlich von Suining, wo es mit dem Geschlechterverhältnis noch schlechter bestellt ist; laut regierungsamtlicher Statistik kommen dort in der Altersgruppe der Bis-Vierjährigen auf 100 Mädchen 163 Jungen. 7 An einem sonnigen Samstagmorgen zähle ich im üppig grünen Cangwu-Park sechs Jungen und drei Mädchen, die sich auf einer Hüpfburg austoben. Nicht weit vom Eisstand füttert ein Dutzend Kids mit verklebten Gesichtern – sieben Jungen, fünf Mädchen – die Tauben. Die Kinder, die auf einer Rasenfläche Drachen steigen lassen: drei und zwei. Die Fahrer in den auf Elektrogleisen kreisenden lustigen kleinen Tanks: drei und eins. 8 Aber ich hätte meine Erhebung ebenso gut in jeder beliebigen von mehreren Dutzend Städten in Ostchina durchführen können. In Yichun (Provinz Jiangxi) kommen in der Altergruppe der Bis-Dreijährigen auf 100 Mädchen 137 Jungen. In Fangchenggang (Provinz Guangxi) erhöht sich die Zahl der Buben auf 153 und in Tianmen (Provinz Hubei) auf 176. 9
    Es scheint zwar so einleuchtend: Man kann nicht die ganze Zeit nur Jungen haben und erwarten, dass die Gesellschaft, in der man lebt, es sehr weit bringt. Aber Eltern, die auf das gewünschte Geschlecht hin selektieren, fällt es trotzdem immer wieder leicht, das Ungleichgewicht der Geschlechter als ein Problem abzutun, das andere betrifft. Meist warten die Eltern, wie die Cousins Wu es getan haben, bis sie eine oder zwei Töchter haben, bevor sie auf geschlechtsselektive Abtreibung zurückgreifen; die wenigsten tun dies schon bei der ersten Schwangerschaft. Wir wissen das, weil rund um den Globus das Geschlechterverhältnis bei der Geburt mit der Geburtenfolge steil ansteigt. Im Jahr 1989, auf dem Höhepunkt exzessiver Geschlechtsselektion in Südkorea, war das Geschlechterverhältnis bei Erstgeborenen landesweit 104 – praktisch normal. Bei Zweitgeborenen lag es bei 113, bei Drittgeborenen bei 185 und bei Viertgeborenen bei 209 – was eine Wahrscheinlichkeit von über 2:1 bedeutete, dass ein Paar eher einen Jungen als ein Mädchen haben würde. 10 Heute zeigt sich in China, Indien und anderen Ländern mit schwerwiegendem Ungleichgewicht im Zahlenverhältnis der Geschlechter ein ähnlicher Trend. Und Paare, die bereits ein oder zwei Mädchen haben, sind vielleichtüberzeugt, dass sie lediglich mehr Gleichgewicht in ihrem Nachwuchs herstellen, wenn sie beim nächsten Mal durchsetzen, dass es ein Junge wird. Wer sich nicht den Kopf über die Mechanismen der Evolution zerbricht, dem mag es nur schwer verständlich sein, dass er dem Gemeinwesen schadet, wenn er in der Elternrolle aktiv für Abwechslung beim Geschlecht seiner Kinder sorgt.
    Ein anderer Aspekt der Familie, in der die Eltern ein, zwei Mädchen haben, ehe sie auf einen Jungen hin selektieren, ist der Umstand, dass diese Eltern unter dem asymmetrischen Geschlechterverhältnis in der Population nicht zu leiden haben. Wenn die Mädchen erwachsen geworden sind und sich nach Partnern umsehen, sind sie gar nicht so übel dran. Wu Bings beiden Töchtern wird es nicht schwerfallen, zu gegebener Zeit Ehemänner zu finden, und sollte der Sohn ledig und auf die Eltern angewiesen bleiben, so wird diesen durch die Verheiratung der Töchter die Bürde doch immerhin etwas erleichtert. Paradoxerweise sind es die Eltern, die allein dank der 50:50-Wahrscheinlichkeit gleich beim ersten Anlauf einen Sohn bekommen – die Eltern, die keine weiblichen Feten abtreiben –, die am meisten zu leiden haben: nämlich dann, wenn sie diesen Sohn in einer Gesellschaft, in der die Nachbarn ihren Fortpflanzungserfolg manipuliert haben, gern verheiratet und seinen eigenen Haushalt führen sähen. 11
    Ein letzter Faktor, der für die weite Verbreitung der Geschlechtsselektion mitverantwortlich ist, hängt mit der Entwicklung der allgemeinen Lebensverhältnisse zusammen, und in diesem Zusammenhang betrachtet nimmt sich

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