Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)
Shanghai zurückkamen, fanden sie in dem Labyrinth von neuen Straßen und Häuserblocks nur mit Mühe nach Hause. Andererseits war aber auch das Zuhause keine feste Größe mehr: Alle redeten ständig von einer neuen, besseren Wohnung. Die Männer leisteten sich Zigaretten der Marke »Sequoia«, die Frauen interessierten sich für ausgefallene neue Medienspektakel wie koreanische Seifenopern. Teenager gingen zum ersten Mal online. Aber so groß war keine Veränderung, dass sie die Anpassungsfähigkeit der Suininger überfordert hätte. Die Bauern, die weiterhin ihre Felder bestellten, entdeckten, dass frisch gebaute Autostraßen ausgezeichnete Tennen zum Weizentrocknen abgeben. Wer im späten Frühjahr hier vorbeikommt, sieht allenthalben Zeugnisse dieser neuen Spielart bäuerlicher Findigkeit: auf den Hauptverkehrsstraßen anstelle von Autos mächtige Rundwälle aus lauter kleinen gelbbraunen Körnern, so, als würde hier riesenhaften vogelgestaltigen Göttern geopfert.
Doch eine kardinale Veränderung, die sich für die Bewohner des Kreises Suining ergab, blieb bei dem ständigen Wandel der Dinge und Verhältnisse ringsum zunächst nahezu unsichtbar; sie zeigte sich nur, wenn man den Blickwinkel erweiterte und gleichsam aus der Vogelperspektive ganze Häuserblocks oder Stadtviertel ins Auge fasste. Den Statistiken der Nationalen Kommission für Bevölkerungsentwicklung und Familienplanung zufolge kamen im Jahr 2007 bei den Geburten in Suining auf je 100 Mädchen 152 Jungen. Die Vogelperspektive kann jedoch auch ein unvollständiges Bild liefern, weil sie unter Umständen übersehen lässt, dass der demografische Wandel in Suining zusammen mit einem ökonomischen Wandel aufgetretenist – dass Mädchen mitten in einer Phase enormen wirtschaftlichen Aufschwungs verschwunden sind. Von Weitem wirkt Suining arm. Vom Innern des Booms aus betrachtet war die Lage hier niemals besser gewesen.
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Einer der Ersten, der davon profitierte, war Wu Pingzhang. [6] Die neuen Wohnungen, die sich die Leute in Suining kauften, statteten sie mit Geräten aus, mit deren Betrieb sie wenig Erfahrung hatten. Als Spezialist für Wartung und Reparatur von Klimageräten und Besitzer von zwei Mobiltelefonen, die täglich 24 Stunden eingeschaltet blieben, war Wu bald ein gefragter Handwerker. Binnen Kurzem verdiente er so gut, dass er zusammen mit seiner Frau aus dem Dorf seiner Vorfahren in eine Mietwohnung in Suining Stadt umziehen konnte. Sie lag in der zweiten Etage eines Betonblockhauses, über einem Fotostudio namens »Fliegen auf dem Wind«, und bestand aus einem einzigen großen Raum, der auf einen geräumigen Balkon hinausging. Um aus dem einen Raum zwei zu machen, brachte Wu Haken an der Decke an und hängte als Raumteiler einen Hintergrundprospekt aus bemalter Leinwand auf, den ihm die Besitzer des Fotostudios geliehen hatten – einen Ausblick durch saubere weiß gerahmte Fenster auf einen makellos blauen Himmel. Vor dem Prospekt arrangierte er dann wie eine Bühnendekoration seine eigenen häuslichen Geräte, die er gebraucht von Kunden erworben hatte: einen Wanbao-Kühlschrank, eine Midea-Mikrowelle und einen PANDA-Farbfernseher. Das Prunkstück war ein vertikales Raumklimagerät, das vom Betonfußboden bis knapp unter die Decke reichte. Wu und seine Frau genehmigten sich jetzt mehr Fleisch als früher, und er begann, Bier zu trinken. An der einen Zimmerwand stapelte er kastenweise Yincheng-Bier, um Gästen zu signalisieren, dass in diesem Haushalt der Vorrat nicht ausging. Er schaffte sichein leichtes Motorrad an. Dank seinem Aufstieg in die Mittelklasse konnte er sich sogar eine kleine Extravaganz leisten: eine Sammlung von Mao-Anstecknadeln aus Kulturrevolutionstagen, die er auf Flohmärkten und von Bekannten zusammenkaufte. Dass er Anrecht auf einen Sohn habe, war für ihn selbstverständlich. »Das ist eine Schicksalsfrage«, sagte er mir. Nach seiner Überzeugung war es ihm von der Vorsehung bestimmt, einen Jungen zu haben.
Wu Pingzhang war nicht der Einzige, der an künftige Erben dachte. Am anderen Ende der Stadt erfreute sich sein Cousin Wu Bing eines bescheideneren Erfolgs. Nach Aufenthalten in Shanghai und Nanjing als Wanderarbeiter hatte auch er eine Wohnung in der Stadt gemietet, in einem Labyrinth von Gassen in der Nähe einer Grundschule. Er schaffte sich ein Mobiltelefon und einen Fernseher an. Und auch er begann, Bier zu trinken; seine Marke war Pengjing. Seine Frau trat der protestantischen Kirche bei, und
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