Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Hosen, Jacken, Kunstseidenblusen, Satinkleider, Overalls und winzigen Sweatshirts für hundert Lire das Stück hängen wir auf die Wäscheleine. Sie zieht sich über eine riesige Terrasse, an deren hoher Betonmauer ein einziger vertrockneter Efeuzweig entlangkriecht. Dann füllen wir die nächste Maschine und reden weiter über das Buch Summerhill von A. S. Neill. Niemand, so empfinden wir es, hatte bislang den Begriff »Freiheit« so zwingend in den Mittelpunkt seinerGedanken über Kindererziehung gestellt wie dieser englische Pädagoge. Freiheit ist in der Schule von Summerhill etwas Machbares, etwas Erreichbares geworden, etwas, das man sich einfach nehmen kann.
Als der Sommer vorbei ist und der Frühnebel den Geruch nach Herbst auf die Terrasse trägt, beschließen wir, über Zürich zurückzukehren. Wir fahren durch die kleine Straße am Seeufer. Philip S. zeigt mir sein Elternhaus, aber er geht nicht hinein, hält nicht einmal an. Wir fahren weiter Richtung Zollikon, wo der Maler jetzt alleine in dem Atelier lebt, das einmal ihr gemeinsames war. In meiner Erinnerung wird es ihre letzte Begegnung gewesen sein. Sie sprechen über Bilder, während mein Sohn auf dem Fußboden des Ateliers in einem Katalog von Andy Warhol blättert; auf dem Umschlag sind Serien immer gleicher gelber, rosa und orangeroter Blumen zwischen giftgrünen Gräsern zu sehen.
Die Gespräche zwischen ihnen sind anders geworden. Philip S. hat Zweifel an dem, was noch vor einem Jahr sein künstlerisches Credo gewesen war. Die Auseinandersetzungen der letzten Monate in Berlin haben ihn verändert. Sie haben auch ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit hinterlassen. Das Bild des einsamen Künstlers trägt nicht mehr, gilt nicht mehr für ihn. »Du musst aufhören mit der Kunst«, sagt er jetzt. Aber der Maler hört nicht auf. Er macht weiter, und in den Jahren, in denen sein einstmals bester Freund auf Fahndungsplakaten gesucht wird, schafft er ein Werk in der Hoffnung, wie er sich ausdrückt, eine Spur von Wahrheit zu finden.
Es ist auch das letzte Mal, dass Philip S. sich mit Klari trifft, seiner Kinderfrau, die Päckchen mit Ovomaltinenach Berlin schickt, seit sie weiß, dass es in seinem Leben einen kleinen Jungen gibt. Erst jetzt nehme ich wahr, dass das Foto, das ich von ihnen beiden gemacht habe, ein Abschiedsbild ist und nicht, wie ich dachte, ihr Wiedersehen nach längerer Zeit festhält. Wie oft ich das Bild mit Klari auch betrachtet habe, die Bewegung darin, das Auseinanderstreben war mir entgangen. Erst jetzt gibt das Bild seine Bedeutung preis: ein Vorgriff auf die Geschichte, die damals für niemanden vorauszusehen war. Klari und Philip S. trennen sich hier voneinander, unter hohen Bäumen, auf einem leicht ansteigenden Weg, sie schauen sich an. Ich weiß nicht mehr, was sie gesagt haben. Aber man sieht die Liebe in dem Blick der kleinen älteren Frau im Übergangsmantel, in Gesundheitsschuhen, eine weiße Handtasche am Arm und die gewellten Haare im Nacken zu einem Knoten gefasst. Sie arbeitet nicht mehr im Haushalt der Familie, aber sie gehört noch dazu. Das bleibt so, über ihren Tod hinaus. Sie wird ihrer ehemaligen Herrschaft nicht von dem Besuch berichten. Sie wird sie nicht kränken wollen, denn sie weiß um die Entfernung zwischen Philip S. und seinem Elternhaus, und sie kennt ihren eigenen Platz im Leben dieses verlorenen Sohns. Wieder steht er mit dem Rücken zum Betrachter. Obwohl sie schon ein paar Schritte auseinandergegangen sind, schauen beide noch einmal zurück. Klaris rechter Fuß macht einen Schritt den Weg hinauf, während er sich im Trenchcoat zu ihr umdreht, bevor er den Weg in die andere, abschüssige Richtung weitergehen wird.
Wir kommen in der Nacht nach Berlin zurück. Das Kind des sozialistischen Professors hat den Samt meines goldenen Sofas mit Kugelschreiber bemalt. Die roten, blauenund grünen Striche verblassen mit der Zeit, aber in ihnen bleibt ein Riss eingeschrieben, der sich bald durch die vielen Dinge ziehen wird, die in meinem Leben von Bedeutung sind.
IX
Worte tauchen auf, die nicht unsere eigenen sind. Wir reden von Klassenkampf, Proletariat, Imperialismus, von Dritter Welt und herrschender Klasse. Das Modell Summerhill hat aus entfernten Bekannten Gleichgesinnte gemacht. Alle melden wir unsere Kinder in den staatlichen Kindergärten ab, weil wir etwas anderes wollen als Reinlichkeitserziehung und Gehorsam. Wir mieten einen der vielen kleinen Läden, die leer stehen, seit
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