Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
draußen bleibt, die Kamera nicht aus der Hand gibt, Zuschauer bleibt, einer, der sich nicht zeigt.
Und doch wird dieser Sommer die einzige Zeit unseres gemeinsamen Lebens bleiben, die sich auf Fotos wiederfinden lässt. Anfangs hatten wir die Nikon hin- und hergereicht und von jedem Film auf der Via Nomentana Kontaktbögen herstellen lassen. Dann suchte Philip S. die Bögen mit der Lupe nach Unschärfen und falschen Belichtungen ab. Er stellt sie in meinen Aufnahmen fest, zu hell, ohne Tiefenschärfe und mit einem lichten Schleier überzogen. Seine Fotos hingegen sind wie stets gestochen scharf und perfekt belichtet. Aber er beginnt in seinen eigenen Bildern etwas zu vermissen, was er in meinen, vom Augenblick verwischten Aufnahmen zu finden glaubt, etwas, das er sich selbst nie gestattet hätte. Er spürt darin eine Anziehungskraft, entdeckt ein Dabeisein, jene festgehaltenen Momente, die ein Vorher und ein Nachher aufschließen und Geschichte sichtbar machen.
Die Fotos dieses Sommers halten ihn in meinem Leben. Nur wenige sind übriggeblieben, als er damit begann, seine Geschichte auszulöschen. Es sind Bilder, auf denen sein Gesicht nur ungenau zu sehen ist, auf denen er zur Seite schaut, im letzten Moment sich wegdreht oder seine Gestalt nur durch einen Wasserstrahl erkennbar ist, den er auf mein jauchzend hindurchlaufendes Kind richtet. Ich sehe ihn im Park der Villa Borghese, den Blick auf etwas Fernes gerichtet. Ich sehe ihn zusammengekauert auf der TerrasseStützräder an ein kleines Fahrrad anschrauben. Ich sehe ihn im Studio einer Musikergruppe über ein Aufnahmegerät gebeugt. Seinen Körper habe ich vor Augen, nicht aber sein Gesicht. Selbst im Fotoautomat beugt er sich nicht zu mir herunter, als er neben mir steht. Und so erkenne ich heute nur seine Hand, die auf der Schulter meines alten, geblümten Kleides ruht.
Gegen Ende des Sommers legt er mir die Kamera, die ihm einmal alles bedeutet hatte, als Geschenk in den Schoß. Er hat sie nur noch einmal benutzt, als er anfing, sich mit dem Fälschen von Pässen zu beschäftigen. Ich konnte in diesem Augenblick auf der Terrasse nicht ahnen, dass er sich bereits freizumachen begann, lautlos und unauffällig, zuerst von den Dingen und dann, später, von den Menschen.
Auf dem Weg zum Meer machen wir halt am Markt von San Giovanni in Laterano oder an der Porta Portese, wo Philip S. sich Turnschuhe, Khakihosen, einen alten Leinenanzug und eine Fliegerjacke mit einem Lammfellkragen kauft. In Gedanken versunken, wühle ich in Bergen alter amerikanischer Kleider aus den dreißiger und vierziger Jahren, während sich mein Sohn unbemerkt von meiner Seite löst und von der Menge verschluckt wird. Eben stand er noch neben mir, und als ich nach seiner Hand greifen will, fasse ich ins Leere. Ein Abgrund tut sich auf.
Neben der Porta Portese hat sich fahrendes Volk niedergelassen. Alle Gruselgeschichten, die ich als Kind im Dorf über das Lager unten am Fluss gehört hatte, sind wieder da. Sie haben meinen Sohn mitgenommen, ich werde ihn nie wiederfinden, sie werden ihn zum Betteln zwingen, und er wird mich vergessen, während ich den Rest meines Lebensnach ihm suche. Philip S. geht mit perfektem Italienisch systematisch vor und findet ihn in der Obhut eines großen Polizisten in weißer Uniform wieder. Ich aber kann diesen Augenblick nie vergessen. Er wird mich jahrelang in den Nächten verfolgen. Was geschehen ist, wird zur Schuld. Die Orte wechseln, aber der Alptraum bleibt der gleiche. Noch lange nach seinem Tod aber ist Philip S. in steter Wiederholung derjenige, der mich von dem Schrecken erlöst und mein Kind zu mir zurückbringt.
Abends, wenn mein Sohn, müde vom Strand, eingeschlafen ist, füllen wir die Waschmaschine im Badezimmer. Es ist uns von allen Zimmern das liebste. Weiß und groß, größer als alle anderen Räume in der ebenerdigen Wohnung des sozialistischen Professors, wo es kaum Bücher gibt, keine Bilder und kein Spielzeug, und die Tische und Schränke mit Resopal überzogen sind. Wir rücken zwei Plastikstühle vor die Waschmaschine. Während sich die Trommel dreht und unsere Fundstücke im Schaum erscheinen und wieder versinken, steigen aus den Dingen Visionen einer Welt auf, in der wir mit unseren alten Kleidern leben wollen, Kleidern, aus denen Farbe und Appretur gewichen sind, die weich sind vom Waschen und vom Gebrauch und sich mit der Geschichte der Menschen, die sie einst getragen haben, unserem Leben anschmiegen. Die Hawaiihemden,
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