Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
überall Supermärkte eröffnet werden, renovieren ihn, richten ihn mit Matratzen ein, mit langen Tischen, Klettergerüsten und einem Sandkasten und nennen ihn Kinderladen. Eine Person ist immer für die Kinder da, wir Eltern kochen abwechselnd und putzen. Der erste Kinderladen ist gegründet, es folgt der zweite, der dritte, der vierte, und wir nennen es eine Bewegung. So ist es in die Geschichte eingegangen, ein sperriges Wort, das für eine Wende steht, für ein völlig neues Nachdenken über Kinder.
Noch ist Philip S. Student der Filmakademie. Er leiht sich zwei Kameras aus. Er will diese erste Zeit dokumentieren, will festhalten, wie die Kinder aufeinander zugehen, wie Mädchen und Jungen sich in der neuen Gemeinschaft bewegen, wie sie Neuland betreten, Freundschaften schließen oder am Rand bleiben, wie sie standhalten oder wie sie fallen, wie sie sich an die Eltern klammern oder sie gehen lassen. Jeden Tag legt er sein Augenmerk auf ein anderesKind, stellt es in den Mittelpunkt der filmischen Aufzeichnungen und folgt den Linien, die zu jedem der kleinen Menschen hin und von ihnen wieder wegführen. Er tastet den Radius kindlicher Bewegung ab. Die zweite Kamera überlässt er jeweils einem Vater oder einer Mutter. Er will auch festhalten, wie die Eltern auf ihre eigenen Kinder schauen. Wenn das gedrehte Material einmal in der Woche durch den Projektor läuft, erkennen wir uns wieder in den Bildern, in dem Blick, den wir auf unsere Kinder richten. Die Filme, die die Eltern gedreht haben, tragen die Zeichen einer unauflöslichen Bindung, der Verklärung, der Liebe und auch der Schuld, die alle Eltern mit sich herumtragen, gefangen in ihren eigenen Bestrebungen, Wünschen und Hoffnungen. Wenn ihr Kind ins Bild kommt, folgen sie ihm, legen aber sofort die Kamera beiseite, wenn es Streit anfängt, wenn es nicht teilt, wenn es das tut, was sie lieber nicht sehen und schon gar nicht zeigen wollen, oder wenn ihm etwas angetan wird.
Philip S. aber liefert eine Bestandsaufnahme. Seine Liebe zu meinem Kind hindert ihn nicht daran, kühl zu beobachten. Als Mensch hinter der Kamera ordnet er sein Gefühl einem Ziel unter, und das wird er auch einige Jahre später tun. Er dreht weiter, wenn die Eltern längst eingreifen würden. Er legt die Kamera auch dann nicht weg, als mein kleiner Sohn von zwei älteren Jungen an den Armen gepackt und so lange hin und her gerissen wird, bis er weint. Wieder bleibt er Betrachter, will sichtbar machen, was geschieht, was sich abspielt zwischen den Kindern, kommentarlos und ungeschönt. Und doch verletzt mich dieses kleine Stück Film, weil Philip S. diese Szene aushält.
Wenn wir die Filme einmal in der Woche analysieren, erkennen wir, was wir nicht wollen. Und jedes Mal kommenwir zu anderen Erkenntnissen, entwickeln immer neue Ansätze und Vorstellungen, wie wir unseren Kindern den Weg in ein freies, selbstbestimmtes Leben ebnen könnten. Mit jeder Erkenntnis aber und mit jedem neuen Ansatz wird die Entfernung vom Ziel größer. Das Modell der freien Schule von Summerhill haben wir längst hinter uns gelassen. Jetzt wollen wir keine freie Insel mehr in einer unfreien Welt. Was wir wollen, bestimmen die Bücher, die wir gerade lesen. Die Bücher sind für uns Handlungsanweisungen. Die Auseinandersetzung mit Herbert Marcuse, Wilhelm Reich, Erich Fromm, Nelly Wolffheim, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Karl Marx und Sigmund Freud ist unsere Hauptbeschäftigung. Wir bilden Gruppen, wir bekämpfen einander, wir werfen uns Haupt- und Nebenwidersprüche, kleinbürgerliches Bewusstsein oder reaktionäres Verhalten an den Kopf. Erziehung und Politik lassen sich nicht mehr trennen. Politik ist für uns etwas Persönliches geworden. Was auch immer irgendwo auf der Welt geschieht, es hat mit unserem Leben zu tun, ganz gleich ob es sich um den Vietnamkrieg handelt, um alte Nazis in unserer Regierung oder um die Erhöhung der U-Bahntarife. Alles hängt mit allem zusammen, jede neue Frage führt mitten hinein in die Gesellschaft, in der wir leben. Alles, was uns begegnet, bringen wir auf einen Begriff. Und hinter den Begriffen steht die große gesellschaftliche Umwälzung, die Revolution heißt.
Wir kaufen eine kleine Druckmaschine und drucken längst vergessene Texte über Erziehung und Psychologie. Uns kommt zu Ohren, dass sich ein unveröffentlichter Text von Walter Benjamin »Das Programm eines proletarischen Kindertheaters« im Besitz eines Doktoranden befinden soll. Ein Rollkommando aus dem
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