Das Verschwinden des Philip S. (German Edition)
Rauswurf der damaligen Besetzer erwogen. Dozenten verlassen die Akademie. Eier fliegen und Tomaten. Schließlich zeigen die Studenten ihre Filme abseits der großen Kinos. Am sichersten in der Kameraführung, heißt es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , sei Der einsame Wanderer , eine ironische Auseinandersetzung mit Symbolisierung und Bildverschlüsselung.
Dann geht die Akademie in die Sommerferien, und die Gruppe der Busreisenden zerfällt. Einer wird über die Jahre zum Chronisten der Berliner Filmakademie. Ein anderer beschäftigt sich bald nur noch theoretisch mit Film. Der Autor des Molotow-Cocktail-Films stirbt, ein halbes Jahr bevor Philip S. erschossen wird, während eines Hungerstreiks in einem Gefängnis in der Eifel. Von dem schärfsten Widersacher des Einsamen Wanderers höre ich erst wieder, als er an Krebs erkrankt ist. Der letzte der Busreisenden hat seine Joints weitergedreht. In seiner kurz vor dem Tod bereits in andere Sphären abgeglittenen Erinnerung verwandelte sich der kleine rote Citroën, mit dem Philip S. einmal nach Berlin gekommen war, in einen roten Maserati.
VIII
Seit seiner Rückkehr von der Busreise war Rom für Philip S. zum Ort der Verheißung geworden. Er hatte die Tage dort unbekümmert und in Leichtigkeit verbracht. Leichtigkeit flog ihm nicht zu. Unbekümmert zu sein musste er lernen. Stets war er mit einem größeren Vorhaben beschäftigt. Vielleicht ist es das erste Mal in seinem Leben gewesen, dass er sich einen Sommer lang einzig der Laune des Augenblick hingeben konnte, wie es ihm eine Handvoll junger Männer am Strand von Ostia vorlebte.
Bis zum Herbst haben wir die Wohnung an den Bahngleisen gegen die eines sozialistischen Professors im Norden von Rom getauscht. Mit einer Kamera, einer Menge Schmalfilmmaterial und der Fotoausrüstung machen wir uns auf den Weg nach Italien. Wir fahren in die Nacht hinein. Die meiste Zeit ist es still im Auto. Ich schlafe an die Rückbank gelehnt, mein Kind liegt mit dem Kopf in meinem Schoß. Im Morgengrauen kommen wir in Rom an und suchen eine kleine Seitenstraße der Via Nomentana in der Nähe der Villa Massimo.
Unser Weg zum Meer führt am Forum Romanum vorbei, über den Ponte Garibaldi, dann eine Weile am Ufer des Tiber entlang und kurz vor Ostia Antica durch den Pinienwald, in dem Federico Fellini Julia und die Geister gedreht hat. Wenn wir am späten Vormittag den Strand erreichen, sind sie immer schon da, die »Uccellini«. Wie Zugvögel haben sie sich an der Spiaggia libera niedergelassen, dem Volksstrand, wie sie ihn nennen, einem Geschenk des römischen Bürgermeisters an die Römer, fünfzehn Kilometer lang, Eintritt frei. Bald werden die Uccelini wieder verschwunden sein, unterwegs zu ihren listigen Taten, mit denen sie versuchen, an den Grundfesten des römisch-katholischen Daseins zu rütteln.
Philip S. hält sie fest in vielen kleinen Rollen Schmalfilmmaterial, aus denen er am Ende des Sommers, abends mit der Klebepresse vor dem Betrachter sitzend, einen Slapstick zusammenschneidet. Schöne junge Männer laufen immer wieder ins Meer, um sich von den Wellen zurück an den Strand werfen zu lassen. Wenn sie aus dem Wasser kommen, streifen sie ihre langen nassen schwarzen Haare aus dem Gesicht und bündeln sie im Nacken. Dann schleppen sie einen alten Tisch vom Strand ins Wasser und versuchen, eine angeschwemmte Flasche daraufzustellen. Als sie nach einem Glas suchen, wird die Flasche weggeschwemmt. Sie schleppen einen alten Stuhl herbei, aber das Glas schwimmt weg. Sie wollen sich auf den Stuhl setzen, da treibt der Tisch ab. Sie rennen dem Tisch hinterher, aber der Stuhl schwimmt fort. Am Ende hat das Meer alles zerlegt und in Teilen zurück an den Strand geworfen. Gegen Abend wird das Licht weicher, die Uccellini greifen nach den Händen ihrer Mädchen und verschwinden zwischen den Dünen.
Keiner der Uccellini denkt in diesem Sommer daran, dass die Zeit vergehen wird und sie irgendwann einmal keine Gruppe mehr sein werden. Dass sie sich aus den Augen verlieren und einzeln ihren Weg gehen werden, als Architekten, Journalisten, Bibliothekare oder was auch immer. Als sie diesen kleinen Film zum ersten Mal sehen, ist Philip S. schon lange tot. Wie in einem fernen Spiegel, betrachten sie die vergessenen Bilder ihrer Jugend, die er ihnen hinterlassen hat. Er selbst ist darin nicht zu sehen. Er spielt nicht mit. Sein Blick ist auf die anderen gerichtet, auf sie, die Uccellini, auf mich, auf mein Kind. Während er
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