Das Versprechen
unschuldig?«
»Ja.«
»Es liegt schließlich sein Geständnis vor.«
»Er muß die Nerven verloren haben. Das lange Verhör, die Verzweiflung, das Gefühl der Verlassenheit. Und ich bin nicht schuldlos daran«, fuhr er leise fort. »Der Hausierer hat sich an mich gewandt, und ich habe ihm nicht geholfen. Ich wollte nach Jordanien.«
Die Situation war merkwürdig. Noch am Vortage hatten wir ungezwungen miteinander verkehrt, nun saßen wir uns förmlich und steif gegenüber, beide im Sonntagsanzug.
»Ich bitte Sie, mir den Fall noch einmal zu übergeben, Kommandant«, sagte Matthäi.
»Darauf kann ich nicht eingehen«, antwortete ich, »unter keinen Umständen; Sie sind nicht mehr bei uns, Herr Doktor Matthäi.«
Der Kommissär starrte mich überrascht an.
»Ich bin entlassen?«
»Sie schieden aus dem Dienste der Kantonspolizei, weil Sie den Posten in Jordanien antreten wollten«, erklärte ich ruhig.
»Daß Sie Ihren Vertrag gebrochen haben, ist Ihre Sache. Aber wenn wir Sie nun wieder einstellen, würde das bedeuten, daß wir Ihren Schritt billigen. Sie werden verstehen, daß dies unmöglich ist.«
»Ach so«, antwortete Matthäi. »Ich verstehe.«
»Das läßt sich leider nicht mehr ändern«, entschied ich.
Wir schwiegen.
»Als ich durch Mägendorf kam, auf meinem Wege zum Flugplatz, waren dort Kinder«, sagte Matthäi leise.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Im Leichenzug lauter Kinder.«
»Das ist doch nur natürlich.«
»Und auch beim Flugplatz waren Kinder, ganze Schulklassen.«
»Nun?« Ich betrachtete Matthäi verwundert.
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»Angenommen, ich habe recht, angenommen, der Mörder des Gritli Moser lebt noch, wären dann nicht andere Kinder in Gefahr?« fragte Matthäi.
»Gewiß«, entgegnete ich ruhig.
»Wenn diese Möglichkeit der Gefahr besteht«, fuhr Matthäi eindringlich fort, »ist es Pflicht der Polizei, die Kinder zu schützen und ein neues Verbrechen zu verhüten.«
»Deshalb sind Sie also nicht abgeflogen«, fragte ich langsam,
»um die Kinder zu schützen.«
»Deshalb«, antwortete Matthäi.
Ich schwieg eine Weile. Ich sah nun den Fall klarer und begann Matthäi zu begreifen. Die Möglichkeit, daß Kinder in Gefahr seien, sagte ich dann, müsse man hinnehmen. Falls Matthäi mit seiner Vermutung recht habe, könne man nur hoffen, daß sich der wirkliche Mörder irgend einmal verrate oder daß er, im schlimmsten Fall, bei seinem nächsten Verbrechen für uns brauchbare Spuren hinterlassen werde. Es klinge zynisch, was ich sage, aber das sei es nicht. Es sei nur schrecklich. Die Macht der Polizei habe Grenzen und müsse Grenzen haben.
Zwar sei alles möglich, auch das Unwahrscheinlichste, doch wir müßten von dem aus gehen, was wa hrscheinlich sei. Wir könnten nicht sagen, von Gunten sei sicher schuldig, das könnten wir eigentlich nie; aber wir könnten sagen, er sei wahrscheinlich schuldig. Wenn wir keinen Unbekannten erfinden wollten, sei der Hausierer der einzige, der in Frage komme. Er habe schon Sittlichkeitsdelikte begangen, führe Rasiermesser mit sich und Schokolade, habe Blut an den Kleidern gehabt, ferner sei er auch in Schwyz und Sankt Gallen seinem Gewerbe nachgegangen, also dort, wo die zwei andern Morde geschehen waren, dazu habe er noch ein Geständnis abgelegt und Selbstmord verübt: Nun an seiner Schuld zu zweifeln, sei reiner Dilettantismus. Der gesunde Menschenverstand sage uns, von Gunten sei der Mörder gewesen. Daß der gesunde Menschenverstand sich irren könne, daß wir menschlich seien, sei unser Risiko. Das müßten wir auf uns nehmen. Auch stelle der Mord an Gritli Moser leider
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nicht das einzige Verbrechen dar, mit dem wir uns zu beschäftigen hätten. Eben sei das Überfallkommando nach Schlieren ausgerückt. Dazu vier schwere Einbrüche diese Nacht. Wir könnten uns den Luxus einer nochmaligen Untersuchung schon rein technisch gar nicht mehr leisten. Wir könnten nur das Mögliche tun und das hätten wir getan. Kinder seien immer in Gefahr. Man zähle über zweihundert Sittlichkeitsverbrechen im Jahr. Allein im Kanton. Wir könnten die Eltern aufklären, die Kinder warnen, das hätten wir alles getan, aber wir könnten nicht das Polizeinetz so dicht knüpfen, daß keine Verbrechen mehr geschähen. Verbrechen geschähen immer, nicht weil es zu wenig Polizisten, sondern weil es überhaupt Polizisten gebe. Wenn wir nicht nötig wären, gäbe es auch keine Verbrechen. Das müßten wir uns vor Augen halten. Wir müßten unsere Pflicht
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