Das vertauschte Gesicht
im Frack pfiffen, und der Bräutigam machte den Freunden aus einer vergangenen Zeit ein Zeichen. Das hättet ihr nicht von mir gedacht, was?
Zwei nebeneinander stehenden Statuen fehlten die Köpfe. Das Brautpaar ging daran vorbei und schaute einander an, dann war es verschwunden, untergetaucht in der Menge.
Am Apfelsinenmarkt hatten sich schon viele an den Tischen unter den Orangenbäumen niedergelassen und ihre Karaffen Sangria bestellt. Winter hörte Leute Norwegisch, Schwedisch, Deutsch sprechen. Ein schwarzer Mann in weißem Anzug mit Perlen im Haar spielte »Lili Marlen« auf einem Akkordeon. Winter ging rasch an den Lokalen vorbei und nach Westen zur Plaza Victoria. Dort setzte er sich auf eine Bank gegenüber einer Tapasbar.
Sein Vater lag im Kühlraum eines Friedhofs, dem Cementerio Virgen del Carmen. Einer der drei Friedhöfe von Marbella.
»Der alte hat keinen Kühlraum«, hatte seine Mutter gestern in einem Tonfall gesagt, als diskutierten sie über eine Ferienwohnung. Natürlich war ihre Sachlichkeit nur ein Schutzschild. Er war froh, dass sie sich so verhielt. »San Bernabe ist malerisch gelegen, aber Virgen del Carmen liegt genauso schön. In einem Pinienhain nördlich von der Stadt.«
Winter hatte genickt. Die Mutter hatte sich eine Tränen weggewischt, doch ihre Stimme hatte immer noch gefaßt, energisch geklungen.
»Wir haben noch keinen Platz ausgesucht, aber wir sind dort gewesen, Vater und ich.«
»Ja.«
»Es gibt auch eine kleine Kapelle.«
»Mhm.«
»Dort findet die Beisetzung statt. Natürlich mit einem schwedischen Pfarrer. Früher durfte die Trauerfeier für die Protestanten in der alten Kirche von Marbella stattfinden, aber ich glaub, das hat den katholischen Priestern nicht gepasst.«
»Die findet dann also auf dem Friedhof statt.«
»Übermorgen. Ich hab vor einer halben Stunde Bescheid bekommen.«
»Das ging aber... schnell.«
»Ich weiß nicht.«
Er erhob sich von der Bank und ging zurück zum Hotel. An einem kleinen kopfsteingepflasterten Platz lag die Bar Altamirano. Alle Tische rund um den Platz waren besetzt von Gästen, die fritierten Fisch und Schalentiere aßen. Im Vorbeigehen meinte Winter Alicia mit halb zum Gruß erhobener Hand in einer Gruppe an einem der Tische gesehen zu haben.
Rasch bog er in die Gasse an der anderen Seite ein, ohne sich umzuschauen.
In seinem Zimmer sah er ihre Visitenkarte auf dem Tisch.
Er duschte kalt und trank ein Glas Whisky. Lotta rief aus dem Haus in Nueva Andalucia an.
»Mama hat heute Abend keine Kraft zum Rausfahren.«
»Ja, das kann ich verstehen. Wie geht es dir?«
»Ich bin total fertig, wenn ich ehrlich sein soll.«
»Ich komme morgen früh zu euch raus.«
»Ja, das ist vielleicht besser.«
Er saß in seinen Boxershorts im Dunkeln, trank seinen Whisky und lauschte auf etwas in seinem Kopf. Dann zog er sich wieder an und ging zurück zur Plaza Altamirano.
Der Friedhof lag im Schatten des Weißen Berges, weit genug entfernt von dem neuen kommerziellen Komplex La Canada.
In der Urne war die Asche. Das ist alles, was übrig ist, dachte Winter. Wir müssen uns ein andermal aussprechen.
Die Sonne stand genau über ihnen, und der Berggipfel schien so nah, dass man meinte, ihn berühren zu können. Die Horizontlinie tief unterhalb schlug einen Halbkreis um das unbewegte Meer.
Vor der Kapelle duftete es nach Sonne und Tannennadeln, und der Duft begleitete sie mit hinein. Winter kannte nur wenige dort drinnen. Ein älteres Ehepaar war im selben Flugzeug gekommen wie Angela. Alte Freunde. Angela hatte gefasst gewirkt, als er sie am Flugplatz außerhalb von Malaga abgeholt hatte.
Angela nahm seine Hand. Ein Mann, den er noch nie gesehen hatte, sang ein Lied auf Schwedisch und eins auf Spanisch.
Hinterher tranken sie Kaffee in einem Cafe in Puerto Banüs nah am Strand. »Das war Vaters Lieblingsplatz«, sagte Mutter.
»Was ist das für eine Statue?«, fragte Winter und nickte zu dem Engel, der auf einem hohen Sockel dem Wasser zugewandt stand.
»Un Canto de la Libertad.«
»Wie bitte?«
»Er soll ein Lied für die Freiheit symbolisieren.« Mutter nickte zu einer anderen Statue, die hundert Meter entfernt von ihnen stand. »Das war Vaters Lieblingsstatue.« Winter meinte, seine Mutter schwach lächeln zu sehen.
Er spürte, wie ihm innerlich leichter wurde. Bestimmte Gedanken hatte er bewusst zurückgehalten, und jetzt fiel es ihm leichter, sie noch für eine Weile auf Abstand zu halten.
Vielleicht half ihm das Lächeln
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