Das vertauschte Gesicht
hundertsiebte Umzug, dachte Winter.
Diesmal war es ein anderes Zimmer mit einem Westfenster. Winter fiel es schwer, den Blick vom Berg zu wenden. Er dachte an das weiße Haus in Nueva Andalucia. Sein Vater schaute auch hinaus, vielleicht auf den weißen Berg. Der Berg war eine Bühne und der Himmel der Hintergrund. Das viele Blau gab dem Hintergrund Tiefe, machte ihn schwarz.
»Wonach riecht es da draußen?«, fragte der Vater, drehte den Kopf und sah seine Familie an, die im Halbkreis um sein Bett saß. »Mir fällt gerade auf, dass ich hier drinnen nichts rieche.« Der Schlauch, der in seine Nase führte, drückte auf sein Kinn. Lotta stand auf und richtete den Schlauch. »Nicht deswegen«, sagte er, als sie sich wieder gesetzt hatte. »Nicht wegen des Schlauchs.«
»Es riecht nach Sonne und Tannennadeln«, sagte Lotta. »Tannenwald. Pinien.« »Tannennadeln? Findest du?« »Ja.«
»Das ist ja wie zu Hause«, sagte er und drehte den Kopf wieder zum Fenster und zu dem Berg. Eine Weile sagte niemand etwas. Plötzlich hustete der Vater, und es klang, als würde er sich räuspern. In seinem linken Arm zuckte es. Es sah aus, als wollte er sich aufrichten. Eine Krankenschwester trat rasch ans Bett und rief etwas auf Spanisch. Winter warf einen Blick auf die Maschine, die die Herzschläge aufzeichnete. Die weiße gezackte Linie lief mit einem metallischen Geräusch aus , einfach gerade weiter. Winter sah, wie seine Mutter und Schwester aufstanden und ihn ansahen. Leute in Weiß kamen hereingestürzt und bewegten sich um das Bett herum.
Als Winter endlich sein Gespräch mit Alcorta bekam, war es zu spät, und es gab nichts mehr hinzuzufügen. Er stand immer noch unter Schock. Seine Mutter war gefasster, als er erwartet hatte. Sie war darauf vorbereitet gewesen, jedenfalls teilweise. Seine Schwester schien wie in sich selbst erfroren, wie sie da auf einem der grünen Stühle im Besucherzimmer saß.
»Ich hätte zu Hause bleiben sollen«, hatte sie eben gesagt, aber sie war sich dessen nicht bewusst.
»Es war nichts mehr zu machen beim letzten Mal«, hatte Alcorta gesagt.
»No. I understand.« »I am sorry.« »Yes. Thankyou.«
»Was passiert jetzt?«
Sie saßen in der Cafeteria. Es roch nach Öl und Fisch. Eine Gruppe Ärzte und Krankenschwestern aßen am Südfenster Mittag. Winter trank seinen Kaffee, der stark war. Die Mutter und seine Schwester ließen ihre Tassen unberührt stehen.
»Was machen wir jetzt?«, wiederholte Lotta.
»Das Krankenhaus hat ein Abkommen mit einem Beerdigungsunternehmen in der Stadt«, sagte die Mutter. »In Marbella.«
»Daran hab ich überhaupt noch nicht gedacht«, sagte Lotta, »meinst du also, Papa soll hier begraben werden?«
»Das wollte er so. Er hat den Wunsch schon vor langer Zeit geäußert.«
»Und wie denkst du darüber?«
Die Mutter zuckte mit den Schultern.
»Es ist sein Wille. Und... meiner auch.«
Sie sah ihre Kinder an.
»Hier sind wir doch zu Hause.«
»Willst du hier bleiben?«
»Ich weiß nicht, Lotta. Ich hab ja meine... Freunde hier, einige. Ich weiß nicht.«
»Kümmert sich das Beerdigungsinstitut um alles?«, fragte Winter.
»Ja. Wenn Doktor Alcorta die... die Todesursache festgestellt hat und so. Das Büro kümmert sich um alle Formalitäten beim Familienstandsregister und was sonst noch nötig ist. Das Gericht. In Spanien werden formelle Entscheidungen vom Gericht getroffen.«
Ihre Kinder nickten.
»Lasst uns wieder zu Vater hinaufgehen«, sagte sie.
Winter ging die Ricardo Soriano entlang. Es war ein neuer Abend. Er ging in die Cervezeria Monte Carlo und bestellte sich an der Theke ein Bier vom Fass. Das Lokal war voll besetzt mit Männern, die sich auf dem großen Bildschirm ein Fußballspiel ansahen. Real Madrid gegen Valladolid. Er trank das Bier und fühlte sich geborgen in dem Gebrüll. Hier drinnen waren keine Frauen. Sie saßen draußen an Tischen auf dem Gehweg und warteten darauf, dass das Spiel zu Ende war und der Abend begann.
Er überquerte die Hauptstraße und bog in eine der Gassen der Altstadt ein. Die Plaza de la Iglesia war voller Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Alle riefen und applaudierten, und Winter sah ein Brautpaar aus der Nuestra Senora de la Encarnaciön treten. Die Kirche türmte sich über allem auf und verdeckte den Himmel. Das Brautpaar schritt langsam über das Pflaster an ihm vorbei, zwei Kinder klatschten aufgeregt in die Hände. Die Braut war schön, sie glitzerte, sie leuchtete. Drei jüngere Männer
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