Das vertauschte Gesicht
mehr.«
»Keine Paradestraße mehr in der Stadt? Spricht da jetzt der Optimist?«
Winters Handy, das auf dem Nachttisch lag, klingelte. Es war drei Minuten nach Mitternacht. Die wenigen, die seine Handynummer kannten, riefen aus dem Dienst an, außer Angela, aber sie lag neben ihm, nackt, immer noch weich und rot, an ihrem Haaransatz schimmerten drei kleine Schweißtropfen.
Und außer seiner Mutter. Es ist ein Mord oder Mutter, dachte Winter, ohne zu lächeln. Er rollte sich auf die andere Betthälfte und meldete sich.
»Erik! Ein Glück, dass du da bist.« Seine Mutter war atemlos, als ob sie zwei oder drei Hügel in Nueva Andalucia hinaufgelaufen wäre. Winter hörte im Hintergrund das Rauschen der Costa del Sol.
»Was ist, Mutter?«
»Wieder Papa. Diesmal ist es ernst, Erik.«
Winter dachte an das vorige Mal, im letzten Jahr. Der Vater war in Marbella wegen Verdachts auf Herzinfarkt ins Krankenhaus gekommen, aber es war nur eine Herzmuskelentzündung gewesen. Winter hatte erwogen, nach Spanien zu fahren, aber es war nicht nötig gewesen.
Er hatte den Vater nicht mehr gesehen, seitdem seine Eltern mit ihrem Geld mehr oder weniger aus Schweden geflohen waren. Und im letzten Jahr hatte er sie nicht sehen wollen und wollte es auch jetzt nicht, wenn es irgendwie zu vermeiden war.
»Ist es wieder der Herzmuskel?«
»Ach, Erik. Er hatte einen Herzinfarkt. Erst vor wenigen Stunden. Ich rufe vom Krankenhaus an. Er liegt auf der Intensivstation, Erik. ERIK? Hörst du mich?«
»Ich bin da, Mutter.«
»Er wird sterben, Erik.«
Winter schloss die Augen, holte Luft. Ruhig, ganz ruhig. »Ist er bei Bewusstsein?«
»Was... nein, er ist bewusstlos. Sie haben ihn gerade operiert.«
»Sie haben ihn operiert?«
»Das sag ich doch. Es war eine lange Operation. Ich glaub, sie haben die Adern gereinigt.«
Angela hatte die Decke über die Brust gezogen und sich im Bett aufgerichtet. Ernst sah sie ihn an. Sie hatte schon verstanden.
»Hast du mit Lotta gesprochen?«, fragte er. Seine Schwester war Ärztin. Sie konnte ein wenig Spanisch. Angela war auch Ärztin, aber sie sprach kein Spanisch. Seine Mutter konnte sich zwar auf Spanisch verständigen, aber er war nicht sicher, ob sie den Arzt verstanden hatte. Ihr Wortschatz war vor allem geeignet, um Wein und Schnaps einzukaufen. Auch wenn der Arzt Englisch gesprochen hatte, war sie vielleicht zu aufgeregt gewesen, um zuzuhören. Selbst wenn der Arzt Schwedisch gesprochen hätte.
»Ich hab dich zuerst angerufen, Erik.«
»Haben die Ärzte irgendwas gesagt?«
»Nur, dass er noch in Narkose ist.« Sie weinte in sein Ohr. »Wenn er nun nicht wieder aufwacht, Erik.«
Winter saß mit geschlossenen Augen da, sah sich schon im Auto auf dem Weg nach Landvetter, im Flugzeug. Blauer Himmel über den Wolken. Er sah auf seine Hand. Sie zitterte. Vielleicht sind es die letzten Stunden, dachte er.
»Ich nehme das erste Flugzeug.«
»Bekommst du denn noch einen Platz? Um diese... diese Jahreszeit sind sie doch immer ausgebucht.«
»Ich krieg das schon hin.«
Angela sah ihn an. Sie hatte alles gehört. Er würde es schaffen. Er würde um sieben, oder wann der erste Flug ging, in diesem Flugzeug sitzen.
4
Er hatte die Tür hinter sich geschlossen. Oder er war hingegangen und hatte sie später geschlossen, bevor es angefangen hatte. Wer versuchte hineinzugelangen, würde einige wichtige Sekunden opfern müssen, die nicht reichten.
Sie hatten gegessen, er erinnerte sich nicht, was es gewesen war. Er hatte nicht gemerkt, was er in den Mund steckte. Sie hatte gelacht, ein- oder zweimal. Er, der andere, hatte nicht gelacht. Als ob er wüsste...
Als ob er wüsste, wer er war, warum er hier war.
Dass ich einfach so dasitzen kann, dachte er. Jetzt rede ich. Ich sage etwas ohne Bedeutung. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt zuhören.
Im Kopf hörte er die Musik, sie begann leise, wurde lauter und hob und senkte sich. Es war, als ob er zu Hause wäre und zuhörte, oder im Auto. Aber er hörte selten Musik im Auto, denn er wollte nicht gegen eine Felswand im Tunnel fahren.
Er lauschte, das war, bevor es angefangen hatte. Oder hatte es damit angefangen, dass er lauschte? Er versuchte, nicht hinzuhören, und eine Weile war es gut gegangen, aber jetzt war es unmöglich. Und jetzt war es egal, jetzt, wo er hier saß. Er sah sich in der Küche um. Sie hatten gefragt, ob er in der Küche sitzen wollte, und er hatte mit den Schultern gezuckt. Dann gehen wir ins Wohnzimmer, hatte sie in einem
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