Das verwunschene Haus
stehenbleiben?«
»Ich habe viel Zeit.«
»Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß Ihre Füße in einer Wasserlache stecken?«
Judith senkt den Kopf.
»Nein, das hatte ich nicht bemerkt.«
»Und haben Sie auch nicht bemerkt, daß es schneit? Und daß all Ihre Pakete zu Boden gefallen sind?«
Judith Appleby weiß nichts zu erwidern. Der Mann fixiert sie mit dem Blick.
»Gehen Sie weiter!«
Sie weiß, daß sie verloren ist, wenn sie gehorcht. Vielleicht hat er sie noch nicht wirklich hinken gesehen, vielleicht vermutet er es nur. Sie darf sich auf keinen Fall von der Stelle rühren!
»Ich kann nicht!«
»Und warum nicht? Jeder Mensch kann gehen. Es sei denn... daß Sie nicht so gehen können wie andere!«
Je nach Veranlagung ist man in Todesangst entweder wie gelähmt, oder es werden sämtliche Überlebenskräfte mobilisiert. Zum Glück gehört Judith zur zweiten Sorte. Sie spürt, daß ihr Verstand jetzt messerscharf arbeitet. Niemals zuvor hat sie die Dinge so klar gesehen. Sie muß reden, immerzu mit ihm reden, sein Interesse wachhalten! Es kommt für sie nur noch darauf an. Zeit zu gewinnen, in der vagen Hoffnung auf irgendeine Rettung. Die Zeit ist ihr Überlebensfaktor.
»Ich bedauere diesen Unglückseligen, von dem man im Radio hört. Was für eine schreckliche Idee, Frauen umzubringen, weil sie hinken!«
»Warum nennen Sie ihn einen Unglückseligen?«
»Das muß er doch sein, wenn er an einem Weihnachtsabend einen Menschen töten will, oder finden Sie nicht?«
Der Mann verzieht höhnisch das Gesicht: »Das hängt davon ab, wen man tötet. Es gibt Geschöpfe, die es nicht verdienen zu leben!«
»Sie können doch nichts dafür!«
»Geschöpfe, die sich beim Gehen verrenken, sind abgrundtief häßlich! Und außerdem kommt das einer Aufforderung gleich! Sagen Sie, Madam...«
Judith wirft dem Mann einen verzweifelten Blick zu, doch dieser wiederholt jetzt mit einer Höflichkeit, die beunruhigender ist als alles andere zuvor: »Ich bitte Sie, gehen Sie schon!«
Jetzt gibt es keinen Ausweg mehr. Judith Appleby spielt ihre letzte Karte aus. Sie sinkt zu Boden und zeigt auf ihren angeschwollenen rechten Fuß: »Ich habe mir den Knöchel verstaucht. Es war ein Unfall. Ich hinke nicht wirklich.«
»Gehen Sie los!«
Der Mann zieht ein langes Messer aus seinem Mantel. »Stehen Sie auf, und gehen Sie so wie vorhin! Sie hatten schon einen guten Anfang gemacht...«
Judith denkt messerscharf nach. Bei diesem Irren löst der Anblick einer hinkenden Frau eine Art von erotischem Wahn aus, der sich in einem Verbrechen entladen muß. Und genau in diesem Moment befindet er sich in einem Zustand unerträglicher Erregung und Frustration zugleich. Wenn sie jetzt aufsteht und losgeht, wird er sie umbringen, denn nur dadurch findet er die ersehnte Befriedigung...
Judith erkennt, daß sie in gewisser Weise Macht über ihn hat. Solange sie sich nicht bewegt und seinem Verlangen nicht nachkommt, bleibt sie Herrin der Lage.
»Nein«, sagt sie, »tut mir leid, aber ich habe keine Lust.«
Der Gesichtsausdruck des Mörders verändert sich jäh. Er beginnt zu bitten und zu flehen, wie ein kleiner Junge, mit dem man nicht spielen will.
»Bitte gehen Sie weiter! Es ist Weihnachten, und ich muß nach Hause. Meine Frau und meine Kinder erwarten mich.«
»Ach, Sie haben Frau und Kinder?«
»Aber ja. Nun gehen Sie schon, ich bitte Sie!«
»Nein. Erzählen Sie mir zuerst etwas von sich!«
Und der Mann, der es auf die hinkenden Frauen von Coventry abgesehen hat, schickt sich an, von seinem Leben zu erzählen, mitten in der Schneelandschaft gegenüber den städtischen Gaswerken.
Judith Appleby hört nicht richtig zu, sie gibt nur von Zeit zu Zeit eine einsilbige Antwort, während sie auf das Wunder wartet, das sie retten soll... Von irgendwoher muß doch schließlich die Rettung kommen! Im Radio hieß es, daß die Polizei Patrouillen über die ganze Stadt verteilt habe. Wie kann sie da eine so abgelegene Gegend auslassen, in der überall Gefahren lauern?
Und in dem Moment sieht sie, wie sich die Gestalt einer hinkenden Frau nähert! Der Mann läßt von Judith ab und stürzt auf die andere zu...
Judith Appleby verlebte dieses Weihnachtsfest nicht im Kreise ihrer Familie. Nachdem der Mörder von einer Angehörigen der weiblichen Spezialtrupppe unschädlich gemacht wurde — übrigens erst nach einem heftigen Zweikampf —, brachte man Judith erst einmal ins Krankenhaus. Dort wurde sie eine Weile behandelt, bis sie sich von dem
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