Das verwunschene Haus
schrecklichen Nervenschock erholt hatte. Was ihre Fußverletzung betraf, so schenkten die Ärzte dieser nur wenig Beachtung. Sie meinten, das sei kaum der Rede wert und begnügten sich damit, den Fuß zu bandagieren.
Oft sind es eben nur Geringfügigkeiten, die über Leben und Tod entscheiden.
Ein Kind in der Nacht
Auf einem einsamen Hafendamm in Dünkirchen spaziert Liliane Chenu scheinbar ziellos auf und ab. Es ist der 5. Mai 1950, gegen drei Uhr morgens.
Mit ihrer übertriebenen Schminke, die nur schlecht die vorzeitigen Falten in ihrem Gesicht verbirgt, sieht sie entschieden älter als ihre fünfunddreißig Jahre aus. Selbst wenn sie sich nicht mitten in der Nacht auf diesem gottverlassenen Kai befände, könnte man an ihrem aufreizenden Gang und dem tief geschlitzten Kleid mühelos erraten, welcher Art ihr Metier ist.
Liliane Chenu lebt von der käuflichen Liebe, und das ist ihr ins Gesicht geschrieben. Sie ist bereits lebenslang gezeichnet. Im übrigen weiß kaum jemand, daß sie Liliane Chenu heißt, abgesehen von der Polizei. Für jedermann ist sie seit langem niemand anderes als »Lili«.
»Hallo, Lili!«
Ein Schatten nähert sich ihr. Es ist Josiane, ihre Kollegin und einzige Freundin. Sie sind gleich alt und stammen aus demselben Dorf. Sie haben beide zur selben Zeit ihre Heimat verlassen, um sich in der Stadt Arbeit zu suchen, und die haben sie schließlich auch gefunden, obwohl es nicht das war, was sie sich erhofft hatten.
Anfangs litt Lili noch unter Schuldgefühlen, doch die sind ihr inzwischen vergangen. Nur eines macht ihr gelegentlich zu schaffen, etwas, das sie dann allerdings sofort wieder aus ihrem Bewußtsein verscheucht: Sie bedauert aufrichtig, kein Kind zu haben.
»Träumst du vor dich hin. Lili?«
Lili wechselt mit Josiane ein paar Worte, bevor die beiden sich trennen. Lili bleibt allein zurück, bis ein Geräusch sie plötzlich aufschrecken läßt. Sie hört, wie jemand in ihre Richtung läuft, doch es ist kein Mann. Dem leichten Schritt nach zu urteilen, kann es sich nur um eine Frau handeln. Forschend starrt sie in die Dunkelheit, und im nächsten Moment erkennt sie die Gestalt, die auf sie zukommt. Es ist ein Kind, ein gutgekleideter Junge von etwa elf Jahren. Er trägt offenbar seinen Sonntagsanzug.
Der Junge scheint sie nicht zu bemerken und will an ihr vorbeilaufen. Lili packt ihn am Arm.
»Nicht so schnell! Wohin willst du denn mitten in der Nacht?«
Der Knabe versucht sich zu befreien, ohne zu antworten. »Was hast du um drei Uhr morgens hier zu suchen?«
Noch immer keine Antwort. Lilis Stimme nimmt einen sanfteren Klang an: »Sag mir, wie du heißt, ja?«
Zum ersten Mal hebt der Kleine den Blick. Trotz der schwachen Beleuchtung sieht Lili jetzt ein artiges Kindergesicht vor sich, das von kurzgeschnittenen blonden Haaren umrahmt wird.
»Ich heiße Simon, Madame.«
»Nun, Simon, was ist dir zugestoßen?«
Simon beginnt zu schluchzen. Lili läßt sich mit ihm auf einer leeren Obstkiste nieder und nimmt ihn in die Arme.
»Simon ist dein Vorname, nicht wahr, aber wie heißt du mit Nachnamen?«
»Brunet.«
»Und wo wohnst du? Hier in Dünkirchen?«
»Nein, Madame. In Saint-Paul.«
Lili kennt Saint-Paul. Es ist ein großes Dorf im Landesinneren, etwa dreißig Kilometer entfernt.
»Das ist aber weit weg! Wie bist du denn hierhergekommen? Zu Fuß?«
Der kleine Simon Brunet wird erneut von heftigen Schluchzern geschüttelt. Für die junge Frau ist jetzt ziemlich klar, was sich abgespielt hat: Der Junge ist von zu Hause geflohen, wahrscheinlich, weil man ihm Vorhaltungen gemacht hat. Er ist zum Hafen gelaufen, um als blinder Passagier auf Weltreise zu gehen. Diese verrückten Ideen findet man oft bei Burschen seines Alters.
Doch seine Antwort ist anders als erwartet: »Ich bin mit dem Auto hergekommen.«
Lili fährt erschrocken zusammen. Was soll das bedeuten? Handelt es sich um eine Entführung?
Mit jäh beunruhigter Stimme erkundigt sie sich weiter: »Wo sind deine Eltern?«
»Mama ist tot...«
Lili drückt das Kind enger an sich.
»Ist es schon lange her, daß du deine Mama verloren hast?«
»Nein, sie ist erst vor kurzem gestorben.«
»Vor kurzem?«
»Ja. Sie war sehr krank. Sic hat immerzu gehustet. Es sind viele Arzte zu uns nach Hause gekommen. Und dann war sie auf einmal tot...«
»Bist du deshalb weggelaufen? Weil du so traurig bist?«
»Nein, ich bin ja gar nicht weggelaufen. Papa ist mit uns fortgefahren...«
Das Kind beginnt heftig zu
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