Das vierte Protokoll
Gedächtnisses.
In jener Nacht, während Bayswater schlief und Burkinshaws Leute im Dunkeln wachten, saß Blodwyn an ihrem Tisch und starrte auf das Gesicht von Franz Winkler. Zwei junge Männer von »Sechs« warteten schweigend. Nach einer Stunde sagte sie lakonisch: »Fernost« und entschwand zwischen den Regalen. In den frühen Morgenstunden des Dienstag, 26. Mai, hatte sie ihn
identifiziert.
Es war kein gutes Foto, und es war fünf Jahre alt. Das Haar war damals dunkler gewesen, die Taille schlanker. Er stand höflich lächelnd neben dem Gesandten seines Landes bei einem Empfang in der indischen Botschaft.
Einer der jungen Männer blickte zweifelnd auf die beiden Fotos. »Sind Sie sicher, Blodwyn?«
Wenn Blicke lähmen könnten, wäre er von Stund an im Rollstuhl gefahren. Er trat schleunigst den Rückzug an und ging ans Telefon.
»Sie hat ihn«, sagte er. »Er ist Tscheche. War vor fünf Jahren irgendein Underling in der tschechischen Botschaft in Tokio. Name: Jiri Hayek.«
Der Anruf hatte Preston um drei Uhr morgens aufgeweckt. Er hörte zu, dankte dem Anrufer und legte den Hörer wieder auf. Er lächelte glücklich.
»Geschafft«, sagte er.
Um zehn Uhr vormittags war Winkler immer noch in seiner Pension. In der Cork Street hatte Simon Margery von K.2. (B), Sowjetische Satellitenstaaten/Tschechoslowakei, die Einsatzleitung übernommen. Schließlich gehörte der Fall jetzt in sein Ressort.
Barry Banks, der im Büro übernachtet hatte, war bei ihm und gab alle Entwicklungen auf dem üblichen Weg an Sentinel House weiter.
Zur gleichen Zeit rief John Preston den Justitiar an der US- Botschaft an, einen persönlichen Bekannten. Dieser »Legal Counsellor« an der Botschaft am Grosvenor Square ist stets der Londoner Vertreter des FBI. Preston brachte sein Anliegen vor und erhielt den Bescheid, er werde zurückgerufen, sobald die Antwort aus Amerika eintreffe, etwa in fünf bis sechs Stunden, da man den Zeitunterschied in Rechnung stellen müsse.
Um elf trat Winkler aus der Tür der Pension. Er ging wieder bis zur Edgware Road, stieg in ein Taxi und fuhr in Richtung Park Lane. An Hyde Park Corner bog das Taxi, gefolgt von zwei Wagen mit dem Observantenteam, in Piccadilly ein. Dort stieg Winkler in der Nähe des Piccadilly Circus aus und unternahm ein paar weitere primitive Versuche, einen Schatten abzuschütteln, den er noch nicht einmal geortet hatte.
»Jetzt geht's wieder los«, murmelte Len Stewart vor sich hin. Er hatte Burkinshaws Bericht gelesen und etwas Ähnliches erwartet. Winkler schoß plötzlich fast im Laufschritt in eine Passage, tauchte am anderen Ende wieder auf, schusselte den Gehsteig entlang und drehte sich nach dem Durchgang um, aus dem er soeben aufgetaucht war. Niemand kam heraus. Es war auch nicht nötig. Am südlichen Ende des Durchgangs hatte sich längst ein Observant postiert.
Die Observanten kennen London besser als jeder Polizist oder Taxifahrer. Sie wissen, wie viele Ausgänge jedes größere Gebäude hat, wo Durchgänge und Unterführungen verlaufen, wo sich enge Passagen befinden und wohin sie führen. Wohin immer ein Joe sich verdrücken will, ist ihm ein Observant bereits vorausgeeilt, einer kommt langsam nach, und zwei bilden die Flanke. Der »Rahmen« ist nicht zu sprengen, und nur ein sehr gewitzter Joe kann ihn überhaupt entdecken.
Überzeugt, daß ihm kein Schatten folge, betrat Winkler das Reisebüro der britischen Eisenbahnen in der Lower Regent Street. Dort erfragte er die Abfahrtszeiten der Züge nach Sheffield. Der Fußballfan mit dem Schottenhalstuch, der dicht neben ihm stand und heim nach Motherwell wollte, war einer der Observanten. Winkler kaufte eine Rückfahrkarte zweiter Klasse nach Sheffield, zahlte bar, notierte sich, daß der letzte Zug um neun Uhr fünfundzwanzig abends vom St. Pancras- Bahnhof abging, dankte dem Schalterbeamten und ging.
Er aß in der Nähe zu Mittag, kehrte nach Sussex Gardens zurück und blieb den ganzen Nachmittag dort.
Preston bekam die Meldung über die Fahrkarte nach Sheffield kurz nach ein Uhr. Er erwischte Sir Nigel Irvine gerade noch, als »C« sich auf den Weg zum Lunch in seinem Club machen wollte.
»Es kann blinder Alarm sein, aber es sieht aus, als wolle er die Stadt verlassen«, sagte Preston. »Vielleicht fährt er zu seinem Treff. Der könnte im Zug stattfinden oder in Sheffield. Vielleicht hat er so lang gezögert, weil es noch zu früh war. Es geht darum, Sir, wenn er London verläßt, dann brauchen wir einen
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