Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Kopf schütteln. Genauso unergründlich wie die Mienen der Kalla war der Ausdruck seines Begleiters. Sein Hemd in der Hand, stand er reglos vor dem Echsenmann.
»Du verlangst viel, aber du machst keinerlei Versprechungen«, erklärte der gerade.
»Weil ich sie kaum halten könnte. Alles, was ich dir versprechen kann, ist, dass viele von euch nicht zurückkehren werden, wenn ihr uns begleitet.«
»Soll uns das anspornen?«
»Kann es euch abhalten? Dann verschwende ich hier wirklich meine Zeit.«
»Du bist doch der, der die Eisklinge trägt, nicht wahr?«
Rhonan nickte nur knapp.
»Dann bist du der von den Göttern auserkorene Führer der Reiche?«
»Nein, das maße ich mir nicht an. Ich bin nur nach einer Prophezeiung der Führer aller Völker, die sich dem Schatten entgegenstellen. Entscheidet selbst, ob ihr dazugehören wollt! Nur entscheidet euch schnell, denn ich zumindest werde mich morgen auf den Weg machen, um noch am Göttertag das Feld der Träume zu erreichen.«
Der Kalla nickte. »Wir werden uns beraten.«
Rhonan sah ihn eine Weile an, verzog aber auch weiterhin keine Miene. »Würdest du uns begleiten?«
»Vermutlich nicht, aber ich werde in mich gehen. Lasst uns jetzt allein!«
Bevor der Prinz ging, drehte er sich noch einmal um. »War dein Vater tot, als du wiederkamst?«
»Das war er.«
»Auf mich wartet meine schwangere Frau. Ich würde sie gern wiedersehen, und ich würde auch gern mein Kind in Frieden aufwachsen sehen, also entscheide dich schnell.«
»Bist du wach, Hylia? Wir müssen aufstehen, das Wasser steigt wieder.«
»Ich erheb mich erst, wenn es mir bis zum Hals steht. Bis diese eklige, stinkende Brühe ihren Höchststand erreicht hat, stehen wir noch lange genug. Ist doch gleichgültig, ob wir zunächst im Sitzen oder gleich im Stehen nass werden. Wo ist da der Unterschied? In den letzten Tagen habe ich mir sogar immer häufiger überlegt, ob ich nicht einfach liegen bleibe. Warum quäle ich mich eigentlich noch hoch? Muss ich denn unbedingt erst auf dem Scheiterhaufen sterben?«
»Zumindest werden unsere Kleider dort bestimmt endlich einmal trocken.«
Caitlin blinzelte sie mutlos an, und Hylia lachte heiser. »Das ist natürlich eine geradezu unwiderstehliche Verlockung. Du bist heute dran mit Erzählen.«
Während sie in einer natürlichen Felsenkammer in den Klippen der Nebelinsel aneinandergeklammert darauf warteten, dass das Wasser des Südmeeres unendlich langsam anstieg, irgendwann ihre Schultern erreichte, um dann genauso langsam wieder abzufließen, hielten sie sich regelmäßig damit wach, dass sie sich gegenseitig etwas von ihren Erlebnissen berichteten.
Sie waren erschöpft, verfroren, verdreckt und hungrig. Selbst, wenn das Wasser endlich wieder abgeflossen war, war der steinige Untergrund feucht, und da nicht ein einziger Sonnenstrahl ihr Verlies erreichte, war es bitterkalt, genau wie das Wasser, das im Fluss der Gezeiten stieg und fiel.
In unregelmäßigen Abständen, die ihnen immer länger vorkamen, wurde ihnen ein Krug Wasser und ein Kanten Brot heruntergelassen. Da Caitlin schwanger war, bekam sie immer das größere Stück, aber beiden war klar, dass sie unter diesen Bedingungen nicht lange überleben konnten. Da sie irgendwann mit dem Zählen der Gezeitenströme durcheinandergekommen waren, hatten sie nicht einmal mehr die geringste Ahnung davon, wie lange sie eigentlich schon hier waren, aber es kam ihnen vor, als wären sie schon Jahre von der Außenwelt abgeschlossen.
Immer wieder zwangen sie sich dazu, durch ihr kleines Verlies zu wandern, das einen Durchmesser von drei Pferdelängen hatte. Oder sie machten Turnübungen, wie Rhonan sie Gideon beigebracht hatte, damit ihre Körper nicht steif wurden. Aber beiden fiel es immer schwerer, sich nicht einfach in ihr Schicksal zu ergeben.
Caitlin dachte, wenn sie einmal wieder völlig verzweifelt war, nur noch an ihren Mann und ihr Kind und streckte und dehnte sich und lief auf der Stelle.
Und Hylia machte die Übungen eigentlich nur noch mit, um nicht ständig von ihrer Freundin hören zu müssen, dass Rhonan immer sagte, man dürfe nie aufgeben, und dass Rhonan immer sagte, man dürfe sich nicht gehen lassen, und dass Rhonan immer sagte, es gäbe immer einen Ausweg. Sie mochte den Prinzen eigentlich sehr gern, aber ständig daran erinnert zu werden, was der alles Schreckliches überlebt hatte, nur weil er sich offensichtlich an seine Sinnsprüche hielt, zehrte immer mehr an ihren Nerven. Nicht
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