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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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natürlich, aber ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist für dich.»
    Â«Er fliegt morgen früh», sagte Nevada. «Morgen früh sehr früh.» Immer wieder dieser Satz: Er fliegt morgen. Und sie flog nicht mit. Sie hatte das Projekt vorgeschoben, doch das Projekt war beendet. Sie hatte Rücksicht auf Annabelle vorgetäuscht, die sich gerne täuschen ließ. Doch die Wahrheit war: Nevada wollte sich entwöhnen. Sie wollte die Zeit nutzen, um sich zu entlieben. Um wieder zu lernen, ohne Dante zu leben.
    Â 
4.
    Das Gruppengespräch fand in einem Schulzimmer statt. Frau Siebenthaler hatte die Rollläden heruntergelassen, der Hitze wegen und damit man nicht hereinsehen konnte. Dafür hatte sie das Deckenlicht eingeschaltet. Von draußen klangen die Stimmen der Kinder herein. Es fühlte sich an wie eine Strafe, hier im künstlichen Licht zu sitzen. Oder wie krank im Bett zu liegen während der Sommerferien. Nevada schüttelte den Kopf. Sie war krank im Sommer. Und im Winter.
    Auf dem Schoß hielt sie einen Halbliterbecher mit Cola und Eis und eine Tüte Paprikachips, die sie im Lehrerzimmer gefunden hatten. Sie traute sich nicht, die Tüte aufzureißen. Schließlich nahm Elma sie ihr weg und begann, geräuschvoll zu essen. Frau Siebenthaler schaute streng. Dann lächelte sie plötzlich. Nevada hatte sie noch nie lächeln gesehen.
    Â«Fangen wir an», sagte die Schulpsychologin. «Frau Marthaler, willkommen, schön, dass Sie dabei sind. Mädchen? Wer fängt an?»
    Lana stand auf. Sie schaute zu Nevada hinüber. «Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, ich hätte mich in der Yogastunde verletzt. Ich wollte Ihnen keinen Ärger machen. Ich wollte nur nicht mehr ins Yoga.»
    Nevada wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. «Ich bin froh, dass nichts passiert ist», sagte sie schließlich. «Warum wolltest du denn nicht mehr ins Yoga?»
    Unsicher schaute Lana sich um. «Ich hatte Streit mit Deniz.»
    Frau Siebenthaler nickte und nickte, als wolle sie das Gespräch mit der Bewegung ihres Kopfes weitertreiben. «Und …?»
    Â«Meine Mutter meinte, ich müsse mich bei Ihnen entschuldigen, Frau Nevada.» Hilfesuchend schaute Lana zu Frau Siebenthaler hinüber, die immer noch nickte. «Ah ja!» Der Mädchen wirkte erleichtert: Es war ihr noch etwas eingefallen. «Und, Elma – es tut mir leid, dass du gedacht hast, ich wolle etwas von Deniz. Wir sind nur Kolleginnen. Also, ich hoffe, wir sind noch Kolleginnen.» Unsicher schaute Lana zu Deniz hinüber, die ungeduldig nickte.
    Â«Stehst wohl nicht auf Mädchen», zischte Rebecca gehässig.
    Â«Aber auf Jungs doch auch nicht», kicherte Zeynep.
    Lana errötete. Sie wirkte jünger als die anderen Mädchen. Selbst Tugba und Zeynep, deren Gesichter ungeschminkt und vom Kopftuchstoff eng eingerahmt waren, sahen älter aus.
    Nevada konnte sich nur schwer vorstellen, dass die beiden verhüllten Mädchen wirklich für eine Reihe von Diebstählen im Schulhaus verantwortlich waren. Doch so stand es in den Unterlagen. Die beiden waren schließlich erwischt worden und hatten alles zugegeben. «Niemand kann ein Kopftuchmädchen vom anderen unterscheiden», hatten sie ihre Taten begründet. «Wir wären ja blöd, wenn wir das nicht ausnutzten.» So hatten sie auch bei Prüfungen die Plätze getauscht.
    Frau Siebenthaler nickte immer noch wie ein Plastikhund auf einer Heckablage. «Danke, Lana», sagte sie. «Du kannst dich wieder hinsetzen. Deniz?»
    Deniz stand nicht auf. Beide Hände lagen auf ihrem Bauch. «Ja», sagte sie. «Eben. Das mit der Schlägerei. Das war nicht Elmas Schuld. Mein Bruder ist auf mich los, Elma hat mich nur verteidigt. Es ist nicht fair, dass sie dafür bestraft wurde.»
    Tugba und Zeynep zischten.
    Elma richtete sich auf. «Wollt ihr etwas sagen?»
    Â«Elma!», unterbrach Frau Siebenthaler. «Gebrauch deine Worte, nicht deine Fäuste!»
    Elma starrte die Psychologin böse an. Dann rutschte sie in ihrem Stuhl zurück, bis sie beinahe darauf lag. Demonstrativ knisterte sie mit der Chipstüte, bis Nevada sie ihr wegnahm.
    Â«Ihr seid ja bloß eifersüchtig», wandte sich Deniz jetzt an Tugba und Zeynep.
    Â«Schlampe!»
    Â«Lesbe!»
    Â«Kein Wunder, dreht dein Bruder durch.»
    Nevada schaute die Psychologin an, die milde

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