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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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Jahre eine Jüngere hatte. Warum sollte es heute anders sein? Es ist doch einfach in den Genen drin!»
    Erika riss sich zusammen. Sie musste versuchen, den Anschluss zu finden. Hatten sie gerade von Mona gesprochen, von John, von der schwangeren Praxishilfe? Hatte sie die Geschichte ausgeplaudert oder Susanne? Oder ging es immer noch um Susannes Schwangerschaft, die an diesem Abend offiziell verkündet worden war?
    Erika atmete schneller. Sie fühlte sich, wie so oft, an ihrem eigenen Esstisch wie bei einer Prüfung.
    Â«Wenn das so ist, warum sind wir dann noch zusammen?» Arnold nahm Gerdas Hand und küsste sie.
    Gerda ließ ihn einen Augenblick gewähren, dann zog sie ihre Hand zurück. «Du und ich, wir sind eben etwas Besonderes», sagte sie sachlich, als verkünde sie eine allgemein bekannte Tatsache. «Nein, was ich sagen will: Ich kann dieses Gewinsel nicht mehr hören! Hier in der Schweiz ist keine Frau benachteiligt. Schaut mich an, ich bin eine Frau, ich bin über fünfzig, mein Vater war Kondukteur bei der VBZ. Ich hab die Matura auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholt, und heute baue ich das Olympiastadion – na ja, das hoffe ich wenigstens. Was ich kann, kann jede – aber natürlich nur, wenn sie bereit ist, so hart zu arbeiten wie ich! Eine Frau, die hierzulande zu wenig verdient, ist einfach selber schuld. Eine Frau, die verlassen wird, auch. Ich hab die Nase voll von den Weibern, die zu faul sind, um wirklich etwas zu leisten, und die sich dann beklagen, sie seien nicht wichtig! Sie würden nicht ernst genommen! Warum sollte man sie denn ernst nehmen, bitte sehr?»
    Â«Absolut einverstanden», rief Delia Kaufmann. «So etwas gibt es doch auch nur hier, in diesem fetten, verwöhnten Land, in dem der Kleinbürgermief noch regiert. Nirgendwo sonst auf der Welt können Frauen es sich leisten, zu Hause auf ihren fetten Ärschen zu sitzen.»
    Â«Der Anspruch auf lebenslange Versorgung durch die Gebärmutter hat überall sonst auf der Welt längst ausgedient», stimmte ihre Partnerin Karin zu. «In keinem anderen Land kommt man mit ‹Frau von …› oder ‹Mutter von …› durch.»
    Â«Na ja, vielleicht in den amerikanischen Vorstädten … oder wenigstens in den Vorstädten der Fernsehserien!»
    Â«Little boxes» , begann der junge Mann zu singen, der Schauspieler, und die anderen fielen ein. «Little boxes on the hillside, little boxes, all the same …»
    Erika kannte die Melodie nicht. Gehörte sie zu einer Fernsehserie? Sprachen sie über Fernsehserien? Gerda hatte doch nicht einmal einen Fernseher. Erika verstand oft nicht genau, wovon die anderen sprachen. Sie hatte gelernt, ihre Unwissenheit zu überspielen, ihr Unverständnis zu verbergen.
    Â«Also … little boxes würde ich das hier nicht gerade nennen», sagte sie und deutete mit einem, wie sie hoffte, koketten Lachen den Rest des Raums, des Hauses, der drei Häuser an.
    Einen Moment lang war es still. Hatte sie zu laut gesprochen? Hatte sie etwas falsch verstanden?
    Â«Nun nimm doch nicht immer alles gleich so persönlich», zischte Max ihr zu, und da verstand sie erst, dass sie gemeint war. Nicht ihr Haus. Sie. Sie übte keinen Beruf aus. Sie trug nichts zur Gemeinschaft bei. Nicht einmal das Essen, das sie auftischte, hatte sie selber gekocht. Trotzdem war sie ständig überfordert und erschöpft. Das richtige Leben sollte nicht so anstrengend sein, fiel ihr wieder ein.
    Â«Oh, nein, nein, nein! Wir wollten dich nicht beleidigen», sagte jetzt Karin Misoto. «Es steht uns nicht zu, über dein Leben zu urteilen. Meine Mutter war auch Hausfrau, und ich habe sie sehr geliebt. Ich hatte den allergrößten Respekt für sie. Alles, was ich geworden bin, verdanke ich ihr.»
    Suleika wählte diesen Augenblick, um an den Tisch zu treten, die Essensreste zu begutachten und eine der halbleeren Schüsseln mitzunehmen. Die Gespräche verstummten, es blieb still am Tisch, auch als Suleika schon wieder außer Hörweite war.
    Â«Und das ist unsere Tochter», murmelte Max.
    Â«O Gott, es tut mir so leid, ich hatte keine Ahnung …», stammelte Karin und machte alles noch schlimmer.
    Â«Danke.» Erika stand auf. Sie wusste nicht, was an diesem Abend anders war als an allen anderen. Aber sie wusste, dass sie keinen Augenblick länger am Tisch sitzen bleiben konnte. Sie

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