Das wahre Leben
sie. Erika öffnete die Lippen.
«Hm», machte er. «Du schmeckst ganz schön nach Wein.»
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Erika ging ins Bad. Sie rührte die Flasche Linsenflüssigkeit nicht mehr an. Sie putzte die Zähne zweimal, sprühte etwas Parfüm in ihr Haar, wusch sich zwischen den Beinen. Nackt legte sie sich ins Bett, nach kurzem Ãberlegen stand sie noch einmal auf und zog eins von Maxâ ärmellosen weiÃen Unterhemden an. Ihre festen Brüste drängten sich aus dem Ausschnitt. Sie hatte sie letztes Jahr straffen lassen. Seither hatte sie niemand mehr berührt. AuÃer John. Im Vorübergehen. Sie konnte Max im Bad hören. Die Dusche lief. Erika lächelte. Sie schob eine Hand zwischen ihre Beine. Sie wollte bereit sein, wenn er ins Bett kam, bereit für Max. Mona hatte recht. Sie vergaà manchmal, wie gut sie es hatte.
Max kam aus dem Bad, die nassen Haare zurückgekämmt, die Brille in der Hand. Er trug einen alten Trainingsanzug. Er blieb einen Moment neben dem Bett stehen, schaute auf Erika herunter, die auf der Decke lag, die Brüste nach oben gereckt, eine Hand zwischen ihren Beinen.
Er seufzte. «Du bist betrunken», sagte er. Er klang traurig. Und gleichzeitig verlegen. Er klang, als schämte er sich. Er nahm sein iPad vom Nachttisch und ging aus dem Schlafzimmer.
Erika drehte sich zur Wand.
Das Haus, in dem sie lebte, war gar kein Haus. Es war eine Kulisse. Eine lebensechte Kulisse aus massivem Holz und schwerer Leinwand, die Erika ganz allein aufrecht hielt. Kein Wunder, dass sie erschöpft war.
Nevada
1.
Nevada wachte auf. Einen Moment lang wusste sie nichts mehr. In ihren Träumen war sie gesund. In ihren Träumen sprang sie über Flüsse und von Hausdächern hinunter. Sie kletterte auf Bäume, sie breitete ihre Arme aus und flog. Sie landete auf beiden FüÃen und rannte weiter, rannte, bis es sie wieder hochzog, hoch in die Luft. Ihr Körper strotzte vor Kraft, er gehorchte ihr, sie jauchzte vor Glück.
Ich bin die Sonne, dachte sie, wenn sie aufwachte. Dann fiel der Schatten auf sie. Wie eine feuchte, kalte, graue Wolldecke, die sich nur mühsam abschütteln lieÃ. Ihr Bett war wie Treibsand, es zog sie hinab, es verschlang sie, gab sie nicht mehr her. Ach, wie schön wäre es, einfach nachzugeben, liegen zu bleiben, in dem Strudel zu versinken, nie mehr aufzustehen. So stellte Nevada sich den Tod vor, wie ein Wasserbett, das sie verschluckte. Rückwärts und mit ausgebreiteten Armen wollte sie sich in diese letzte Umarmung fallen lassen. Sie würde in dem Bett versinken, und dann wäre endlich Ruhe. Dann musste sie nichts mehr. Warum durfte sie nicht einfach liegen bleiben? Warum durfte sie nicht tot sein?
Weil sie nicht tot war. Darum.
Der Wecker klingelte immer noch. Sie streckte die Hand aus, um ihn auszuschalten, sie drehte sich im Bett um. Da war das vertraute Ziehen in den Beinen, das Kribbeln unter der Haut, das Jucken â die Krankheit war noch da. Mit all ihren Symptomen. Sie legte sich wieder auf den Rücken, hielt das Handy dicht vors Gesicht â ihre Augen gehorchten ihr auch nicht mehr. Es war eher selten, hatte ihr Neurologe Doktor Fankhauser erklärt, dass die Schädigungen der Nervenzellen alle Bereiche gleichzeitig beeinträchtigten: die Arme, die Beine, den Rücken und die Augen. Meistens konzentrierte es sich auf ein Nervenzentrum, vielleicht auf zwei. Die zunehmenden Schwierigkeiten, die sie mit ihren Augen hatte, konnten auch an ihrem Alter liegen. Das hatte er vorsichtig formuliert. Normalerweise begann die Altersweitsicht mit etwa vierzig Jahren. Nevada war achtunddreiÃig. Sie kniff die Augen zusammen. Es war sieben Uhr morgens. Was war heute?
Sie redete sich zu wie einem alten Pferd: «Na komm schon, das kannst du! Steh auf, mach das Fenster auf, streck dich, mach dir einen Kaffee ⦠Kaffee, hm? Hm? Komm schon, na also!» Je weiter ihre Krankheit fortschritt, desto schwerer wurde die Decke. Und gleichzeitig konnten die angekratzten Nervenzellen unter ihrer Haut immer weniger Druck ertragen. Selbst das Gewicht einer imaginären Wolldecke verursachte ihr zusätzliche Schmerzen, ein elektrisches Summen unter ihrer Haut wie von alten Strommasten. Diese Decke wurde nicht nur immer schwerer, je länger sie auf Nevada liegen blieb, sie schien auch Spuren zu hinterlassen. Als würde sie sich in ihre Haut brennen.
Wenn sie genauer darüber nachdachte,
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