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Das wahre Leben

Titel: Das wahre Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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wusste sie, dass diese Decke immer da gewesen war. Solange sie denken konnte. Aber früher hatte Nevada wenigstens ihren Körper beherrscht, sie hatte ihn aus dem Bett und direkt in eine Serie von Dehn- und Streckübungen zwingen können, noch bevor ihr Geist fragen konnte: «Warum, wozu, was soll das?»
    Ihre Yogapraxis hatte sie gerettet, ihre Disziplin. Jeden Morgen hatte sie als Erstes zwei Stunden lang geübt, hatte von einer vertrauten Bewegung über die nächste zu sich gefunden. Seit sie nicht mehr auf diese Art üben konnte, war die Decke mit ihrer Haut verschmolzen, hatte sich nicht mehr abschütteln lassen, sie war ein Teil von ihr geworden. Seit Nevada vor zwei Jahren die Diagnose Multiple Sklerose erhalten hatte, fragte sie sich, ob diese Decke ein erstes, frühes Symptom gewesen war. Eine Vorläuferin der gefürchteten Fatigue , dieser Müdigkeit, die sich knochentief eingräbt, dass sie schmerzt. Fankhauser hielt die Decke für eine Form der Depression.
    Auf dem Rücken liegend, ruhte Nevada sich aus. Machte sich bereit für die nächste Bewegung. Tastete ihren Körper von innen ab. Die Beine zuckten. Kleine Stromschläge in den Waden. Sie legte eine Hand in die andere, drückte und knetete sie. Sie richtete sich auf. Mit den Fingernägeln fuhr sie über ihre Beine, drückte, so fest sie konnte. Es ging nicht darum, den Schmerz wegzumassieren, sondern darum, ihre Nerven abzulenken, auf eine andere Spur zu schicken. Manchmal gelang es ihr damit, den Schmerz zu überlisten.
    Dann saß sie auf dem Bettrand, vornübergebeugt, und rieb ihre Beine. Sie kniff sich in das weiche Fleisch ihrer Kniekehlen. Manchmal dachte sie an den alten Witz: «Warum schlägst du dir denn immer mit dem Hammer auf den Kopf, das muss doch weh tun?» – «Weil es so schön ist, wenn der Schmerz nachlässt!»
    Sie kniff in die Haut, zupfte an ihr, stellte teilnahmslos fest, dass die Haut an ihren Beinen schon mal fester gewesen war. Immer noch dieses Brennen unter der Haut. Sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Es würde nie besser werden. Nur schlimmer. Ihre Beine waren so schwach, der Schmerz in ihnen war so stark. Warum gab sie nicht einfach auf?
    Pferden gibt man den Gnadenschuss, dachte sie.
    Da klopfte es. «Nevada?» Es war Sierra, ihre ältere Schwester. Nach ihrer Diagnose war Nevada bei ihrer Mutter und ihrer Schwester eingezogen, die im Erdgeschoss ihres Wohnhauses eine Gesundheitsoase für Frauen betrieben. Letztes Jahr war ihre Mutter mit ihrem neuen Mann nach Spanien ausgewandert, die beiden Schwestern blieben zurück. Sierra war zehn Jahre älter als Nevada. Als Kinder hatten sie nicht viel miteinander zu tun gehabt, doch heute waren sie sich sehr nahe. Es gab Tage, an denen Nevada ihrer Krankheit dafür dankbar war.
    Sierra leitete die Gesundheitsoase, in der Nevada als Yogalehrerin arbeitete. Hier unterrichtete sie vor allem Einzelstunden. In den letzten Monaten hatten ihre Beschwerden zugenommen, und sie hatte immer wieder Stunden absagen müssen. Doch heute konnte sie nicht absagen. Heute würde sie zum ersten Mal eine Gruppe junger Mädchen unterrichten, die aus dem einen oder anderen Grund in Schwierigkeiten geraten waren. Sie lebten in einer Siedlung am Stadtrand, wo Nevada bereits zwei offene Gruppen leitete. Manchmal kamen zehn Leute, manchmal fünfzig oder sechzig. Aus dem Yogastudio war Nevada es gewohnt, mit großen Klassen zu arbeiten. Doch wo sie früher junge, bewegliche Menschen in einheitlicher Kleidung unterrichtet hatte, standen heute alle Altersgruppen vor ihr, eine Bandbreite unterschiedlicher physischer Voraussetzungen. Eine elfjährige Kunstturnerin stand neben einer siebzigjährigen Frau mit künstlicher Hüfte. Manche Frauen behielten ihre Kopftücher an, manche Männer ihre Straßenkleidung. Nevada genoss diese Vielfalt. Sie bewegte sich in diesen Stunden mehr als sonst, sie stand von ihrem Stuhl auf und ging am Stock zwischen den Schülern hindurch, beobachtete Stellungen, korrigierte sanft mit einem Wort, einer aufgelegten Hand.
    An diesen Stunden verdiente sie praktisch nichts. Doch früher oder später würde sie ohnehin eine Invalidenrente beziehen und gar nicht mehr arbeiten dürfen.
    Die Mädchengruppe, die sie heute zum ersten Mal unterrichten würde, war von einem ihrer treuen Yogaschüler zusammengestellt worden. Er leitete die

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