Das wahre Leben
zunichte. Solange Suleika so dick war, konnte Erika tun, was sie wollte. Sie konnte so gut aussehen, so schön wohnen, sich so kultiviert unterhalten, so formvollendet einladen, wie sie wollte. Der Anblick ihrer Tochter machte all das zunichte. Ihre Tochter war der Fleischberg gewordene Beweis für Erikas Versagen.
«Ich bin heute Abend eh nicht da», sagte Suleika nun, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. «Sagen wir einfach, ich hätte meinen Anteil einfach zwei Stunden früher gegessen als die anderen.»
«Deinen Anteil?» Anklagend zeigte Erika auf die halbleere Ofenform.
«Als ob Gerda oder Susanne mehr als einen halben Löffel davon essen würden», sagte Suleika. «Oder du. An euch Röntgenbilder ist Frau Nadolnys Kochkunst eh verschwendet!»
«Suleika, mach jetzt bitte keine politische Grundsatzdiskussion daraus», rief Erika. «Es kommen schlieÃlich auch noch andere Gäste. Gäste, die essen. Männer!»
Verzweiflung stieg in ihr auf. Das Essen war ruiniert. Sie war zu spät mit allem. Sie hatte sich noch nicht umgezogen. Max würde erst später kommen, und Erika wusste nicht, welchen Wein sie zum Aperitif reichen sollte. Das wackelige Kartenhaus ihrer Zuversicht stürzte ein.
«Was soll ich denn bloà tun?», jammerte sie. «Es ist alles ruiniert, ich schaff es nicht, es ist alles ruiniert, es ist alles ruiniert, ich dreh noch durch â¦Â» Erika sah sich beim Durchdrehen zu, wie einem auÃer Kontrolle geratenen Spielzeugkreisel auf dem Küchenboden. Sie wollte das Kreiseln anhalten, unterbrechen, doch sie konnte es nicht. Ihre Stimme wurde immer schriller.
«Wer kommt denn noch?», fragte Suleika schlieÃlich, und Erika riss sich zusammen. Sie atmete einmal tief durch, zweimal. Suleika betrachtete sie mit einem kalten Blick. Konnte es sein, dass ihre eigene Tochter sie verachtete?
«Delia Kaufmann mit ihrer Partnerin, und Felix Feilchenfeldt mit seinem Sohn, wie heiÃt er gleich?»
«Der Schauspieler?» Einen Moment lang zeigte sich Suleika interessiert. «Delia Kaufmann, das ist die Opernhausdirektorin, nicht? Ist die lesbisch?»
«Natürlich ist sie lesbisch», sagte Erika heftig. «Das weià doch jeder.» Wie konnte Suleika so weltfremd sein? Wo lebte sie denn? Sie interessierte sich für nichts, was wirklich wichtig war. Erika spürte eine Wut in sich aufsteigen, die nichts mit den weggefressenen Ãlplermagronen zu tun hatte und nichts mit Suleikas Weigerung, sich über gesellschaftliche Zusammenhänge in ihrer Stadt auf dem Laufenden zu halten. Die Wut lebte direkt neben ihrer Verzweiflung. Sie war uralt. Ãlter als sie selbst. Und sie würde alles überschwemmen, wenn Erika es nicht verhinderte. Sie würde alles mit sich reiÃen und zerstören. Während die Verzweiflung alles zusammenhielt.
Erika ging ins Bad und trank einen groÃen Schluck aus der Plastikflasche, die nicht Linsenflüssigkeit enthielt, wie draufstand, sondern Wodka.
Â
Suleika hatte recht gehabt: Es war genug da. Heute aÃen auch Männer nicht einfach ungeniert, worauf sie Lust hatten. Sie achteten genau wie Frauen auf ihre Linie. Sie bekämpften den körperlichen Zerfall mit derselben Verbissenheit. Das Alter machte keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Aber Erika würde sich hüten, das auszusprechen. Ihre letzten Versuche, sich ins Gespräch einzumischen, hatten betretenes Schweigen ausgelöst. Max war etwas später gekommen und hatte als Erstes den WeiÃwein kritisiert, den sie zum Apero gereicht hatte. Erika hatte zweimal nach dem Namen von Delia Kaufmanns Partnerin fragen müssen und beide Male «Wie interessant, ist das ein italienischer Name?» gesagt. Karin Misoto war Japanerin. Das Tischgespräch war ihr bald entglitten, vielleicht, weil sie einen Schluck zu viel aus ihrer heimlichen Flasche genommen hatte. «Nicht mit Alkohol einnehmen» , stand auf der Packungsbeilage aller Medikamente, die sie einnahm. Nicht mit Alkohol? Wie denn sonst?
Sie musste besser aufpassen. Erika hatte gesehen, wie Max einen Blick mit Gerda wechselte, der über ihr übliches Flirten weit hinausging. Wie die Eltern eines ungezogenen Kindes hatten sie sich über den Tisch hinweg angeschaut, resigniert und doch verschwörerisch.
«Früher starben die Frauen im Kindbett», sagte Gerda jetzt. «Da war es ganz normal, dass ein Mann alle paar
Weitere Kostenlose Bücher