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Das weiße Grab

Das weiße Grab

Titel: Das weiße Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lotte Hammer , Søren Hammer
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Gesichter waren interessant genug, und keiner der Zugestiegenen fand unter ihrem kritischen Blick Gnade. Ein Mädchen setzte sich neben sie, ohne sie zu beachten. Sie war in ein Handy-Gespräch vertieft. Die Frau nahm ihren Rucksack etwas zur Seite, damit das Mädchen mehr Platz hatte, dann ertönte ein Signal, und die Türen schlossen sich, und die S-Bahn setzte sich wieder in Bewegung.
    Kurz darauf kam ein Mann Mitte fünfzig in ihren Waggon. Er wirkte ruhelos und sah sich ständig um, als würde er verfolgt. Mit noch immer gehetztem Gesichtsausdruck nahm er etwas weiter vorne Platz. Sie studierte ihn eingehend, und ihr Puls stieg.
    Seine Gewöhnlichkeit stachelte sie an. Sein Gesicht fiel durch eine unglaubliche Leere auf, durch das Fehlen markanter Kennzeichen. Als wäre dieser Mann vollkommen neutral erschaffen worden. Er konnte Bettler sein und Pfandflaschen sammeln oder Bankdirektor, beides wäre gleichermaßen passend. Dabei hatte er durchaus auch etwas Vertrauenerweckendes an sich, er war ein Mann, bei dem man sich sicher fühlen konnte. Das Gewöhnliche war nie gefährlich. Sie holte ihren Skizzenblock aus dem Rucksack und fasste den Entschluss, ihn Herrn Mittelmaß zu nennen, wenn die Zeichnung erst fertig war.
    »Mann, sind Sie gut. Darf ich mir das mal ansehen?«
    Das Mädchen hatte ihr Telefonat beendet. Ihr einfältiger Kommentar beeindruckte die Frau nicht, trotzdem reichte sie ihr ihren Block. Sie wies Menschen nicht gerne ab, obwohl sie eigentlich lieber nach Hause wollte.
    Er wollte sie am Bahnhof Grimstrup abholen, der um diese Zeit so verwaist war, dass es niemandem auffallen würde, wenn sie sich in sein Auto setzte. Wie ein verbotenes Spielzeug.
    »Was ist das?«
    »Eine Mauer in England.«
    »Die sieht doch vollkommen blöd aus. Nur ein paar Steine. Warum haben Sie die gezeichnet?«
    Es war schwer zu erklären.
    Eigentlich wusste sie selbst nicht, warum sie fünf Monate lang gespart hatte, um für zwei Tage nach London fahren zu können? Zwei Tage, in denen sie stundenlang eine römische Mauer mitten im größten Finanzdistrikt der Welt gezeichnet hatte. Eine verwitterte Ruine, ringsherum dominiert von glitzernden Glasfassaden. Formen, Konturen, Flächen und Winkel – sie hatte jede Minute genossen.
    Fast machte es den Eindruck, als hätte das Mädchen ihre Gedanken erraten. Das Datum unter der Zeichnung und die Aufkleber auf ihrem Rucksack verrieten sie wohl.
    »Sie waren nur wegen dieser blöden Mauer in London?«
    »Ich will Architektin werden. Irgendwann einmal. Aber sieh mal hier.«
    Sie nahm den Skizzenblock wieder an sich und blätterte weiter. »Der hier war der Guide einer Horrortour. Er hieß Patrick.«
    Der junge Mann war in Begleitung einiger Leute an ihr vorbeigelaufen und hatte mit großen Gesten und überdeutlicher Betonung über irgendetwas doziert. Sie war ihm gefolgt, hingerissen von seinem Sixpence und seiner viel zu großen Tweedjacke. Anfangs hatte sie sich noch am Rand der Gruppe aufgehalten, sie hatte ja nicht bezahlt, doch später, als sie bemerkt hatte, dass sie trotzdem willkommen war, hatte sie sich weiter nach vorne getraut.
    »Er hat über Jack the Ripper gesprochen, einen Serienmörder aus den 1880 er Jahren, der in London gewütet hat. Jack the Ripper hat Prostituierte umgebracht und sie mit seinem Messer aufgeschlitzt. Fünf Frauen gehen auf sein Konto. Whitechapel war damals so etwas wie ein Slum, heute ist es topmodern.«
    Am Ende der Führung hatte sie mit Patrick einen Kaffee getrunken, gelacht und Witze gemacht. Er ging auf die Schauspielschule und war ein Meister darin, Shakespeare auf eine ziemlich schräge, ironische Weise zu zitieren. Zu mehr war es allerdings nicht gekommen.
    Das Mädchen sagte: »Ich hoffe, die haben den aufgehängt.«
    »Er wurde nie gefunden, weshalb es unzählige Theorien gibt, wer dieser Mann gewesen sein könnte. Dabei werden alle möglichen, feinen, hochgebildeten Herrschaften genannt. Ich glaube aber, dass er viel unscheinbarer war. Irgendein stiller Typ, den niemand verdächtigen würde.«
    Am Bahnhof Hillerød verabschiedete sie sich von dem Mädchen, stieg aus und gesellte sich zu einigen wenigen Menschen, die auf den Lokalzug nach Frederiksværk warteten. Plötzlich stand Herr Mittelmaß hinter ihr, ohne dass sie ihn kommen gehört hatte. Sie drehte sich um und lächelte ihn entgegenkommend an. Vielleicht würde sie eine neue Chance bekommen, ihn zu zeichnen.

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    I n Præstø wurde Arne Pedersens Theorie, dass die

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