Das weiße Grab
abgewiesen.
Am gleichen Abend gelang es Andreas Falkenborg, seinen Bewachern zu entkommen. Es geschah im Herzen von Kopenhagen, an der Einmündung der Frederiksborggade in die Nørre Voldgade. Vier zivile Polizeifahrzeuge nahmen an der Observation teil. Die Beamten achteten darauf, dass immer ein Fahrzeug vor und eines hinter Andreas Falkenborgs blauem Mercedes war, der anscheinend ziellos durch die Stadt fuhr. Die beiden anderen Wagen bildeten eine Art Absicherung, sollte eines der Fahrzeuge den Kontakt verlieren. Der Job war so einfach, dass er fast schon langweilig wurde. Der Mann hinter Falkenborg fuhr ruhig und vernünftig, eher zu langsam als zu schnell, und in keinem der Polizeiwagen waren die Beamten sonderlich bei der Sache, als ihr Zielobjekt plötzlich entsprechend der Verkehrsregeln auf der rechten Spur an einer Ampel am Bahnhof Nørreport anhielt. Es war das zweite Mal im Laufe von fünf Minuten, dass sie sich an diesem Ort befanden, was die Aufmerksamkeit der Beamten hätte wecken müssen. Beim letzten Mal war die Ampel allerdings grün gewesen, so dass sie dem Verkehr gefolgt und am Bahnhof vorbeigefahren waren. Jetzt aber lief alles ganz anders ab. Der eine der beiden Beamten im nachfolgenden Wagen sagte müde: »Mein Gott, wie lange will der denn noch in der Stadt herumkurven?«
Die Antwort seines Kollegen war wenig engagiert: »Das wird sich zeigen. Immer noch besser, als bloß die ganze Zeit auf seinen Hauseingang zu starren. So haben wir wenigstens ein bisschen Abwechslung, he … verdammt … was ist das denn?«
Der Beamte reagierte blitzschnell, er öffnete die Autotür, ohne sich daran zu stören, dass er sie gegen die Seite eines Busses schlug, schob sich nach draußen und rannte, die anderen Verkehrsteilnehmer ignorierend, die wenigen Meter in Richtung Bahnhof. Erst als sein Kollege sah, dass der Mercedes leer war, erkannte auch er die Situation und folgte seinem Partner. Aber Andreas Falkenborgs Vorsprung war zu groß, so dass beide zu spät kamen.
Sie beratschlagten sich kurz, dann rannte einer der beiden über die Treppe nach unten auf den Bahnsteig, während der andere die übrigen Observationsteams zu sich rief. Bald darauf waren acht Beamte vor Ort, aber das alles nützte nichts. Nach einer hektischen Viertelstunde gaben sie auf, und der Leiter der Observation gab die niederschmetternde Neuigkeit an den Wachhabenden der Polizeiwache Glostrup weiter, der gleich darauf das Morddezernat informieren wollte.
Doch es blieb bei dem Gedanken, denn diese Nachricht ging zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt ein.
Während der Wachhabende die Information über Andreas Falkenborgs Verschwinden entgegennahm, stand nämlich sein Dienststellenleiter mit ernstem Gesicht neben ihm. Freundlich, aber bestimmt nahm dieser dem Wachhabenden das Telefon ab und beendete das Gespräch mit der Erklärung: »Ihre Tochter hat gerade angerufen.«
Die Angst kam in Wellen. Der Mann nickte, zu etwas anderem war er nicht imstande.
»Es geht um ihren Sohn, er wurde gerade in die Klinik Herlev eingeliefert. Meningitis. Es ist ernst, Mads. Der Junge liegt im Koma. Sie bitten dich, sofort zu kommen.«
Es vergingen beinahe zwölf Stunden, bis Konrad Simonsen erfuhr, dass Andreas Falkenborg nicht mehr unter Aufsicht der Behörden stand, sondern bereits seit einem halben Tag vollkommen ungestört herumlief.
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D ie Abende waren dunkler geworden, ohne dass jemand dies bemerkt hatte. Eigentlich war es noch nicht so lange her, dass der Flieder geblüht hatte, die Ferien vor einem lagen und die hellen Nächte immer länger und länger wurden. Die Frau in der S-Bahn betrachtete ihr Spiegelbild in der Scheibe neben sich. Ohne Eitelkeit, wenn sie auch wusste, wie schön sie war. Sie zuckte mit den Schultern. Jeden Spätsommer bekam sie diesen Anflug von Melancholie, in den guten Zeiten des Jahres nicht das erreicht zu haben, was sie sich vorgenommen hatte. Die Zeit, die vor ihr lag, kam ihr dann immer länger vor als die zurückliegenden Tage, Wochen und Monate. Vielleicht würde sich das ja ändern, wenn sie älter wurde.
Die S-Bahn fuhr in den Bahnhof Nørreport ein, an dem viele Passagiere aus- und einstiegen. Hektisch, auf der ständigen Jagd nach ein paar Sekunden. Sie betrachtete die neu zugestiegenen Fahrgäste. Sie beherrschte es bis zur Perfektion, die Leute unbemerkt zu beobachten und sie anschließend zu porträtieren, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Aber sie war kritisch, bei weitem nicht alle
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