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Das weisse Kaenguruh

Das weisse Kaenguruh

Titel: Das weisse Kaenguruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Praxenthaler
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die Augen aufschlug und wie selbstverständlich in gepflegtem Oxford-Englisch nachfragte, was zum Teufel sie denn hier zu suchen hätten. So etwas Schrilles war selbst den Engländern noch nicht untergekommen, und dementsprechend weit standen ihnen die Münder offen. Als das weiße Känguruh dann auch noch wissen wollte, ob sie vielleicht etwas zu trinken hätten, es sei schließlich »bloody hot today«, waren die Mitglieder der Expedition vollends perplex. Aber anstatt ihm mit einem gezielten Kopfschuß aus einem der mitgebrachten Gewehre den Garaus zu machen, besannen sich die Männer ihrer angeborenen britischen Höflichkeit und kredenzten dem weißen Känguruh ein Glas des besten Whiskeys, den sie mit sich führten.
    Kurze Zeit später war eine heitere Konversation im Gange. Blauäugig, wie das weiße Känguruh war, dachte es nämlich an nichts Böses, sondern fand Geschmack an dem seltsamen Gesöff und schüttete sich einen Whiskey nach dem anderen hinter die Binde. Schnell hatte es einen ordentlichen Schwips beisammen, verlor mit jedem Schluck ein Stück seiner Contenance und wurde schließlich verheerend redselig. Von der diabolischen Wirkung des Alkohols hatte es keine Ahnung gehabt. Genau das erkannten die Eroberer aber nun und witterten ihre Chance. Sie schenkten dem weißen Känguruh fleißig nach und entlockten ihm nach dem elften Tumbler das größte Geheimnis, das der fünfte Kontinent zu bieten hatte. Sie bekamen die Antwort auf die Frage, warum der Ayers Rock rot war.
    Die Engländer wollten am Anfang nicht glauben, was ihnendas weiße Känguruh da auftischte. Aber es bestand darauf, daß die Geschichte wahr sei. Der Ayers Rock, so erklärte es beschwingt und von Sinnen, leuchte deswegen rot, weil sich tief unter ihm eine Höhle befinde, in der der größte und reinste Rubin verborgen liege, den es auf der ganzen Welt gab. Der Rubin sei so groß, fuhr das weiße Känguruh voller Stolz fort, daß selbst die Muskelkraft aller Menschen und Tiere zusammen nicht ausreichen würde, um ihn aus seinem Versteck zu bergen. Und wahrscheinlich hätte es den Engländern in seinem alkoholisierten Überschwang auch noch verraten, wo sich der einzige und verdammt gut versteckte Zugang zu der besagten Höhle befand, wenn es nicht mitten im Satz die Haltung verloren und haubitzenbreit nach hinten gekippt wäre, um in ein tiefes, mehrstündiges Delirium zu fallen.
    Als das weiße Känguruh wieder erwachte, konnte es sich an nichts mehr erinnern und hatte einen schlimmen Kater. Es schlug die Augen auf, hielt sich den Kopf und schaute sich um. Der Anblick, der sich ihm dabei bot, erschreckte das weiße Känguruh sehr. Es saß nämlich nicht etwa unter seinem Lieblingsbaum, wie es dachte, sondern kauerte eingesperrt in einem Holzkäfig, der auf einem wackeligen Karren stand und sich schaukelnd in Richtung Küste bewegte. Dazu hatte es einen Knebel im Mund und sein rechter Fuß war mit einer eisernen Kette an eine Strebe des Käfigs gekettet.
    In der Hoffnung auf eine satte Belohnung hatten die Eroberer beschlossen, das arme Tier schnurstracks nach England zu verschiffen, um die sensationelle Entdeckung dem König zu präsentieren. Was auch nicht weiter verwunderte, angesichts des Geheimnisses, das das weiße Känguruh in sich trug. Wenn es ums Geld geht, ist nichts heilig. Nicht einmal die guten Sitten. Denn anstatt das weiße Känguruh mit dem gebührenden Respekt zu behandeln, gaben sich die Engländer im folgenden äußerst unhöflich und versuchten bereits während der Rückfahrt in die Heimat, das Geheimnisdes Höhleneingangs aus ihrem Gefangenen herauszufoltern. Kaum an Bord, begannen sie das weiße Känguruh zu treten und zu prügeln, überließen es für mehrere Tage kopfüber an einem Mast hängend der erbarmungslosen Sonne des Indischen Ozeans und schnitten ihm, als auch die bewährte Spezialmethode mit kochendem Wasser nicht weiterhalf, die linke Pfote ab. Langsam und in kleinen Stücken. Aber selbst das brachte sie keinen Millimeter näher an ihr Ziel. Der Wille des weißen Känguruhs blieb ungebrochen. Es sagte kein Wort.
    Mit jedem Tag auf hoher See, der ihm neue Qualen bescherte, spürte das weiße Känguruh allerdings, wie sein Wille schwand und daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Schmerzen die Grenze des Erträglichen überschritten und es seinen übermenschlichen Widerstand aufgeben müsste. Daher beschloß es, sich lieber selbst zu töten. Eines Abends, nach neun Tagen brutalster Folter,

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