Das weiße Krokodil
hab’s!« sagte er plötzlich lebhaft. »Seht ihr da unten eure Mutter?«
Die Kinder schauten nach draußen und nickten.
»Und könnt ihr auch die Steine sehen, die am Ufer liegen?«
»Ja!« antworteten beide wie aus einem Munde.
»Von einem jener Steine will ich euch erzählen. Paßt also gut auf!« Er schloß für einen Moment die Augen. »Vor nicht allzulanger Zeit lag oberhalb der Stelle, an der eure Mutter gerade wäscht, ein besonders schön geformter Kiesel, der nach Tausenden von Jahren, die er in aller Zufriedenheit verbracht hatte, mit einem Male seine unmittelbar am Waschplatz liegenden Kameraden beneidete. Der herrliche, aber nur gelegentlich zu ihm herüberwehende Geruch der zur Wäsche benutzten Seife hatte es ihm angetan, und da er nicht laufen konnte, flehte er ein Ereignis herbei, das ihn in die Nähe der Seife tragen sollte. Und nun werdet ihr staunen: sein Wunsch ging in Erfüllung! Eines Nachts brach ein furchtbarer Sturm aus, der das Wasser hoch aufpeitschte, und als der Morgen graute, lag unser Stein nur noch knapp einen Meter von der Stelle entfernt, an der eure Mutter immer wäscht.«
»Liegt er da jetzt noch?« unterbrach ihn der Junge, wobei er angestrengt zum Ufer hinunterblickte.
»Das wirst du wissen, wenn ich die Geschichte zu Ende erzählt habe«, erwiderte Tie-tie. »Der Kiesel, der über seinen neuen Platz zunächst sehr glücklich gewesen war, wurde nämlich nach einigen Wochen erneut unzufrieden. Er hatte den wunderbaren Seifengeruch jetzt zwar direkt vor sich, grämte sich aber darüber, daß die Seife nie auf seinem Rücken, sondern stets auf dem eines anderen Steines abgelegt wurde. Die Eifersucht machte ihn ganz krank, und er flehte in seiner Not erneut ein außergewöhnliches Ereignis herbei, das seinen verhaßten Rivalen fortschaffen und ihn an dessen Stelle setzen sollte.
Merkwürdigerweise wurde ihm auch dieser Wunsch erfüllt. Das Boot eures Vaters stieß eines Abends anders als üblich an das Ufer und schob unseren Stein genau dorthin, wo er gerne liegen wollte. Nun war er selig, und er wußte sich vor Freude kaum zu halten, als er die weiche Seife zum ersten Mal auf seinem Rücken fühlte.
›Ach‹, dachte er, ›wie schön könnte das Leben sein, wenn ich kein einfacher Stein, sondern ein Stück Seife wäre.‹
Schon wieder nagte die Unzufriedenheit an ihm, und sie steigerte und steigerte sich, bis er eines Tages voller Entsetzen gewahrte, daß die Seife mit jeder Wäsche an Größe verlor und schließlich so klein wurde, daß sie kaum mehr aufzuheben war. Und dann rutschte sie eurer Mutter auch noch aus der Hand, und der Stein erlebte aus unmittelbarer Nähe, wie sich die Seife im Wasser auflöste und schließlich verschwand, als habe sie nie existiert.
›Das soll mir eine Lehre sein‹, sagte sich der Stein, und seit jener Stunde ist er mit sich selbst zufrieden und glücklich darüber, kein weiches Stück Seife, sondern ein harter Kiesel zu sein.«
»Und wie geht die Geschichte weiter?« fragte der Junge, als Tie-tie schwieg.
»Sie ist zu Ende!« belehrte ihn sein Vater. »Hast du sie denn nicht verstanden?«
»Nein«, antwortete der Junge mit kläglicher Stimme.
Der greise Tie-tie schloß ihn gerührt in die Arme. »Sei nicht traurig darüber. Es gibt sogar Erwachsene, die solche Geschichten nicht verstehen.«
III
Tie-ties Wunsch, schon am nächsten Tage zur Sandelholz-Pagode zu gelangen, ging nicht in Erfüllung, obwohl es für Yen-sun ein leichtes gewesen wäre, ihn in einer knappen Stunde an das Ziel seiner Wünsche zu bringen. Er tat es nicht, weil ihm seine besorgte Frau das Versprechen abgenommen hatte, den ehrwürdigen Vater nicht allein zur Pagode zu rudern, sondern gemeinsam mit den beiden Fischern, die sich im Augenblick mit seinem Kutter auf einer Fahrt nach Penang befanden. Sie hatte weniger an das weiße Krokodil gedacht, das ihr natürlich nach wie vor große Sorge bereitete, sie wünschte vielmehr, daß starke Männerhände die inmitten des Dschungels gelegene Pagode von Lianen, Schlingpflanzen, Unrat und all dem Getier befreien sollten, das sich zweifellos im Laufe der Jahre in sie eingenistet hatte. Darüber hinaus wollte sie Tie-tie einen Sack Reis mitgeben, und das konnte sie erst, wenn die mit getrockneten Fischen zu einem Großhändler entsandten Kameraden ihres Mannes nach Erledigung ihrer Geschäfte zurückgekehrt waren. Im übrigen benötigte sie auch noch eine gewisse Zeit zur Vorbereitung verschiedener Dinge,
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